Enthaltsamkeit
„Wem hat unsere Enthaltsamkeit genutzt? Für wen wurden die Wochen unserer Einschränkung zu Wochen der Freude, wem haben sie geholfen? ... Viele haben sich hier in der Kirche versammelt, viele sind vorbeigekommen. Doch haben auch ebenso viele Leute durch unseren Verzicht ein Stück Brot zu Essen bekommen? Gerade das aber wird man uns beim Jüngsten Gericht fragen. Man wird nicht von uns wissen wollen, ob wir Wunder getan haben oder nicht. Man wird uns jedoch dafür richten, dass wir satt waren, während andere hungerten, dass wir gut gekleidet gingen, während andere zerlumpt herumliefen." - aus einer Predigt zum Ende der Fastenzeit von Metropolit Antonij von Sourozh
Статья

1969

Ich möchte euch heute zwei Dinge mit auf den Weg geben. Die Fastenzeit geht ihrem Ende entgegen und die Karwoche rückt immer näher. Zu Beginn der Fastenwochen sprach ich von ihrem Sinn und erinnerte euch daran, dass die Fastenzeit für einen Menschen eine Zeit sein sollte, in der er sich von all dem enthält, was er nicht wesentlich braucht in seinem Leben. Eine Zeit, in der er sich so einschränkt und sich quasi dazu zwingt, den einzig wirklichen und wahrhaftigen Werten seines Gewissens, der Wahrheit des Menschseins und der Wahrheit Gottes ins Auge zu sehen. Des weiteren sollte diese Einschränkung unser selbst auf die wirklich notwendigsten Dinge anderen Menschen Nutzen und Freude bringen.

Jetzt ist es langsam Zeit, Rechenschaft abzulegen. Wir alle können uns einschränken. Jeder von uns. Uns alle umgeben Dinge, die wir eigentlich nicht wirklich benötigen. Möge ein jeder sich jedoch vor seinem Gewissen die Frage stellen: Worauf habe ich verzichtet? In welchem Maße habe ich dies getan? Wieviel Überflüssiges habe ich mir genehmigt und wovon habe ich mich enthalten?

Dann sollten wir uns des weiteren die Frage stellen: Wem hat unsere Enthaltsamkeit genutzt? Für wen wurden die Wochen unserer Einschränkung zu Wochen der Freude, wem haben sie geholfen? Hier in der Kirche haben wir Geld für die Notleidenden gesammelt und es steht uns nicht zu, zu  beurteilen, wieviel ein jeder gegeben hat, nachdem wir gezählt haben, was dabei zusammengekommen ist. Für die Armen vor unserer Kirche jedoch haben sich in den gesamten vergagenen Wochen keine zwei Pfund finden lassen. Und genau dies ist die Frage, die sich für uns stellt. Viele haben sich hier in der Kirche versammelt, viele sind vorbeigekommen. Doch haben auch ebenso viele Leute durch unseren Verzicht ein Stück Brot zu Essen bekommen? Gerade das jedoch wird man uns beim Jüngsten Gericht fragen. Man wird nicht von uns wissen wollen, ob wir Wunder getan haben oder nicht. Man wird uns jedoch dafür richten, dass wir satt waren, während andere hungerten, dass wir gut gekleidet gingen, während andere zerlumpt herumliefen. Ich könnte diese Reihe noch unendlich fortsetzen. Fragt euer Gewissen und antwortet ehrlich: Habt ihr wirklich um euer Seelenheil willen auf Dinge verzichtet und brachte diese Enthaltsamkeit irgendjemandem auch nur ein kleines Stück Freude oder tat jemandem etwas Gutes? Wenn nicht, dann war unser Fasten sinnlos, dann waren all die Tage vergebens. In all den vergangenen Wochen haben wir immer wieder daran gedacht, dass Christus nach Jerusalem zieht, um dort zu leiden und zu sterben, weil so viele andere Menschen leiden und sterben, während dessen einige andere im Überfluss leben.

Die Kartage stehen uns bevor. In den ersten drei Tagen sollten wir aus dem Evangelium, welches verlesen werden wird, all das sammeln, was wir zu erfassen vermögen, all die Wahrheit, die irgendwann einmal als solche unserer Seele hat leuchten lassen. Wenn dann die Evangeliumslesungen am Karmittwoch zu den eigentlichen Ereignissen der Karwoche übergehen, wenn wir den Leiden Christi ins Angesicht schauen werden, dann lasst all das, was uns betrifft, einfach vergessen, denn dann ist es zu spät zurückzudenken. Dann lasst uns einfach vor dem stehen, was geschieht. Dann mögen die Geschehnisse uns wie Fäuste schlagen, uns richten, uns neu ausrichten und zurechtbiegen, so wie es ein Hammer tut, wenn das Eisen geschmiedet wird. Versteckt euch nicht vor dem, was ihr hören und sehen werdet, beruhigt euch nicht an der Schönheit und dem Frieden, den ihr in und ausserhalb der Kirche finden werdet, um vor dem zu fliehen, was eigentlich in diesen Tagen geschieht, wie eine Menschenge einen Menschen gejagt hat, Ihn gequält hat und getötet. Denn auch wir sind diese Menschenmenge, die damals um Christus herum lebte. Lasst uns auch dieser Wahrheit ins Angesicht schauen, lasst über uns ehrlich Gericht halten. Vielleicht regt sich dann auch in uns etwas, nicht nur für einen Augenblick, sondern für immer. Vielleicht werden wir dann aus der Karwoche herauskommen als wahrhaftigere Menschen, erneuert nach dem Bilde Dessen, Der in diesen Tagen gestorben ist.

Amen        

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