14. 2. 1988
Das Gleichnis,das wir in der heutigen Evangeliumslesung gehört haben, kennen wir sehr gut. Wir könnten also auch an ihm vorübergehen und dem, wovon es redet, quasi keine besondere Aufmerksamkeit schenken. Doch es erzählt uns etwas über mehrere Dinge.
In erster Linie erinnert es uns daran, dass irgendwann einmal der Tag kommen wird, an dem wir vor dem Lebendigen Gott stehen werden. Wir werden Ihm ins Angesicht schauen und dabei wird sich das Gericht über uns vollziehen. Nicht Gott wird uns dabei schadenfroh auflauern, um unsere bösen Taten abzuwiegen und sie zu verurteilen. Wir selbst werden dann vor Gott stehen, der die Schönheit an sich ist, und dann werden wir verstehen, wie wir selbst Sein Abbild in uns besudelt haben. Wenn wir vor Gott stehen werden, vor Dem, Der uns über alle Maßen geliebt hat, dann werden wir begreifen, wie wenig Liebe wir Ihm geschenkt haben. Ist das etwa kein Gericht?
Das gleiche geschieht auch zwischen uns hier auf der Erde. Manchmal werden wir ganz plötzlich gewahr, wir tief ein Mensch uns geliebt hat, wie wahrhaftig seine Liebe zu uns war. Wir aber haben alles einfach nur genommen, was uns von ihm geschenkt wurde, all seine Liebe, seine Wärme, seine Zärtlichkeit und Fürsorge, all seine Hingabe. Wir haben das Leben dessen oder derer, der oder die sich Tag für Tag für uns aufgeopfert hat, angenommen, ohne auch nur selbst etwas zurückzugeben. Wir haben uns die Liebe dieses Menschen schenken lassen wie etwas selbstverständliches, als ob wir ein Recht auf sie gehabt hätten. Dann aber kommt der Tag, an dem dieser Mensch stirbt und plötzlich begreifen wir, dass wir immer nur genommen haben und ihm nie ein Zeichen gegeben haben, ein Zeichen, dass wir wussten und verstanden hatten, wie tief, wahrhaft und groß wir von ihm geliebt waren.
Wir werden irgendeinmal vor dem letzten Gericht stehen: Dann wird es zu spät sein! Der Mensch, der uns geliebt hat, hat uns schon lange vergeben und nun, in der Ewigkeit wird Gott die gleichen Worte sagen, die Christus einst sprach, als man Ihn ans Kreuz schlug: Vater, Vergib ihnen, denn sie wussten nicht, was sie taten. Doch wie qualvoll wird dann unser Gericht sein, welches wir selbst über uns halten werden. Wie qualvoll wird es sein, begreifen zu müssen, dass wir einem Menschen, der uns so viel Liebe geschenkt hat, ein wenig Freude hätten bereiten können, dies aber nicht getan haben.
Diese Gericht ist viel grausamer als jede beliebige irdische Rechtsprechung nach den Prinzipien der Gerechtigkeit. Dieses Gericht wird und soll uns tagein tagaus direkt ins Herz treffen, schonungsloser als alle formalen Urteilssprüche eines irdischen Gerichts. Wir werden nicht danach gerichtet werden, ob wir die Gebote eingehalten haben, sondern danach, ob wir es gelernt haben zu lieben.
Das heutige Gleichnis spricht davon sehr eindeutig. Gott fordert von uns nichts, was die menschlichen Kräfte und Möglichkeiten übersteigt. Hast du Mitleid gehabt mit einem, der Hunger hatte oder Durst? Hast du Mitgefühl gehabt mit einem, der kein Dach über dem Kopf hatte? War dein Herz besorgt um jemanden, der im Gefängnis lag? Hast du dich abgewandt oder dich geschämt, dass man dich für seinen Freund hätte halten können? Hattest du etwa Angst, dass man auch dich mit ihm oder ihr zusammen verurteilen hätte können? Es gibt so viele andere Wege, um sein Mitleid, sein Mitgefühl, seine Liebe auszudrücken.
Im Grunde genommen meint Christus: Wart ihr einfach nur menschlich oder nicht? Hattet ihr Mitleid, wart ihr solidarisch und konntet ihr dies auch ausdrücken? Wart ihr Brüder und Schwestern für die, die um euch waren. Wenn ja, dann kann das neue Leben in euch aufquellen. Wenn ihr aber nicht einmal menschlich sein konntet, wie könnt ihr dann erwarten, dass ihr an der Göttlichen Natur Anteil haben werdet? Nur wenn wir einem Diamaten gleichen, dann kann das Licht in uns scheinen und es nach allen Seiten hell werden lassen. Wenn aber nicht, wie können wir dann etwas strahlen lassen, was auch immer es sein möge?
Erinnert ihr euch an die Worte Christi, dass, wenn euer Auge dunkel ist, auch alles um euch herum dunkel sein wird? Wenn unser Herz blind, taub und tot ist, dann wird auch alles um uns herum tot sein und alles wird im Schweigen des Todes vor sich hinsiechen, alles um uns wird dann finstere Leere sein.
Um jedoch wirklich wahrhaft Mensch zu sein, sollten wir es lernen, im Einverständnis mit dem Einzigsten zu leben, Der allein es vermag, unser Herz, unseren Geist und unser Leben mit wahrer Liebe zu erfüllen, durch wahres Mitleid, zusammen mit Christus, Der in die Welt gekommen ist, um uns zum Heil zu führen. Wenn wir aber fern von Ihm sind, dann gelingt es uns nur in einem sehr begrenzten Maße mitzufühlen, wahrhaft freundlich zu sein und Zärtlichkeit zu zeigen. Wir wissen es nicht, was es heisst, zu lieben, zu lieben mit all unserem Wesen, mit all unserem Leben und Tod, mit allem, was wir sind und mit noch viel mehr: Lieben mit Gottes eigener Liebe in unserem Herzen, mit Gottes eigenen Blick in unseren Augen, mit Gottes sich opfernde Hingabe in unserer eigenen Hingabe an andere.
Deshalb spricht der Heilige Johannes Klimakos, dass wir nicht gerichtet werden dafür, dass wir keine Wunder vollbracht haben, oder dass wir keine himmlichen Visionen gehabt haben, sondern dafür, dass wir nicht unaufhörlich unsere eigene Gottesferne beweint haben. Wir leiden nicht einmal wirklich darunter. Wir sind so daran gewöhnt, dass zwischen Ihm und uns ein Abstand besteht. Wir fühlen es gar nicht, wie weit wir uns von Ihm entfernt haben und wie schutzlos wir ohne Ihn sind.
Manchmal, so denke ich, ist es angebracht, uns an jemanden zu erinnern, der den Saum von Christi Gewandt berührt hat und der es dann niemals wieder vergessen konnte, was er erlebt hatte. Ich möchte euch hier nun einige Zeilen aus einem Brief des Starzen Siluan vorlesen: Adam war betrübt auf der Erde und die Erde war ihm zum Biest geworden. Er sehnte sich nach Gott und sprach: Meine Seele seht sich nach Gott und unter Tränen suche nach Ihm. Wie soll ich Ihn suchen? Als ich mit Ihm war, war meine Seele voller Freude und Ruhe. Der Feind konnte mir nichts anhaben. Herr, wo bist Du? Wo bist Du, mein Licht? Warum hast Du Dein Angesicht vor mir verborgen? Meine Seele hat Dich seit langen nicht geschaut und sehnt sich nach Dir und sucht Dich unter Tränen! Wo bist Du, mein Herr? Warum sehe ich Ihn nicht in meiner Seele? Was hindert Ihn in mir zu sein? Das bedeutet also, dass in mir nicht die Liebe Christi wohnt und ich nicht vermag meine Feinde zu lieben. Ich habe die Gnade verloren und rufe gemeinsam mit Adam: Herr sei mir gnädig! Gib mir einen Geist voller Demut und Liebe! Oh, Liebe des Herrn! Wer Dich einmal erfahren hat, wird dich fortwährend suchen, tagein tagaus schreit es in ihm: Ich sehne mich nach Dir Herr und suche Dich unter Tränen. Wie soll ich Dich nicht suchen? Du hast mich durch Deinen Heiligen Geist Dich begreifen lassen und dieses Wissen um Gott, lässt meine Seele dich unter Tränen suchen.
So empfand ein Mensch wie du und ich, ein einfacher russischer Bauer, der die Nähe Gottes erfahren hatte und der sich ohne sie wie ein Waise auf der Erde fühlte.
Lasst uns darüber nachdenken, weil jeder von uns in besonderen, heiligen und gesegneten Augenblicken des Lebens die Nähe Gottes erfahren hat. Wie leicht geben wir uns damit zufrieden, dass wir einsam sind in der Welt wie so viele andere auch. Wir sind jedoch nicht dazu berufen, um zu sein, wie die vielen anderen. Wir sind berufen, dass Gott in uns selbst anwesend ist, um durch uns und in uns zu leuchten. So möge also Sein Licht in uns vor den Menschen scheinen, damit auch sie unseren Vater, Der im Himmel ist, preisen.
Amen