Bereits das zweite Mal ist es mir gewährt worden, hier in dieser Kirche zu zelebrieren. Sehr gerne bin ich heute noch einmal zu euch gekommen, denn ich freue mich, mit euch zusammen - wie ein Leib und eine Seele - vor Gott zu stehen, ohne – wenigstens für eine kurze Zeit - daran zu denken, was uns trennt. Denn Christus ist unter uns, wenn wir nur auf Gott schauen und sich unser Herz durch Seine Gnade ganz öffnet. Es gibt aber heute noch zwei andere Gründe, die unser Herz voller Freude erstrahlen lassen.
Der erste ist das Fest selbst, das Fest Maria Schutz und Fürbitte, welches wir nun am Vorabend des eigentlichen Festtags beginnen zu feiern. Die Erzählung von Maria Schutz und Fürbitte ist einfach und wunderbar. Sie eröffnet uns, wie feinfühlig die russische Seele ist und von Anfang an war. Die Erzählung berichtet, wie slawische Stämme, unsere Vorfahren, die Stadt des Kaisers, das schon nicht mehr ganz junge Konstantinopel, einnehmen wollten. Die Gottesmutter jedoch bereitete ihr Schutztuch über dieser christlichen Stadt aus, über jener Stadt, die dem Mensch gewordenen Gott, Ihrem Sohne, diente und Ihn verehrte. Ein Sturm verjagte daraufhin die russischen Schiffe. Bei den Griechen geriet dieses Fest auf lange Zeit in Vergessenheit. Die Russen jedoch vergaßen es nie. Die Tatsache, dass der Zorn der Gottesmutter auf sie selbst gerichtet war, tat diesem keinen Abbruch. Sie waren gerührt von dieser Liebe, von diesem Schutz, mit dem die Gottesmutter jene umgab, die ihren Eingeborenen Sohn liebten. So sind auch wir heute, wie schon unsere Vorfahren, voller Freude, denn an diesem Tag hat die Gottesmutter ihren Schutzmantel nicht nur über der Stadt Konstantinopel ausgebreitet, sondern über allen Christen, die ihrer Barmherzigkeit und ihres Schutzes bedürfen.
Wenn wir über die Gottesmutter nachdenken, dann begreifen wir, dass sie – ein zartes Mädchen – nicht mit Gewalt ihr Volk beschützt hat, sondern mit ihrem Gebet und ihrer Fürbitte vor Gott: Hab Erbarmen, denn mein Mutterherz kann nicht mitansehen, dass die, die Dir ihr Herz gegeben haben, von Dir verlassen werden. …
Es ist ihre Liebe, eine Liebe, die äußerst zärtlich ist und unendlich schwach zu sein scheint. Doch in Wirklichkeit ist nichts stärker und mächtiger als sie. Im Alten Testament heißt es, dass die Liebe so stark ist wie der Tod. Sie kann vor dem Tod bestehen. Unsere liebsten und nächsten Menschen können sterben. Unsere Liebe zu ihnen jedoch wird dabei nur noch stärker, sie wird tiefer und reiner und verwandelt sich aus einem rein irdischen Erleben zu einem ewigen Empfinden der Einheit mit Gott. Mit einer solchen Liebe ist uns die Gottesmutter zugetan.
Russland selbst wurde schon in seinen frühen Jahren der Allheiligen Gottesmutter geweiht. Kiew hatte bereits eine Kirche ihr zu Ehren. Die Gottesmutter gilt als die Schutzpatronin der Rus, nicht nur der Christen in ihr, sondern aller, für die ihr Sohn, der Gottessohn, auf die Erde gekommen war, gelehrt hatte und gestorben war. Denn alle sollten an Seine Liebe glauben können. Er starb am Kreuz, damit Er das Recht habe, für all die, die Ihn gekreuzigt hatten, Seinen Vater zu bitten: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Diese Bitte gab Er uns wie ein Vermächtnis mit auf unseren Weg.
Jedes Mal, wenn wir in irgendeiner Situation Opfer werden – sei es nun während eines Streits zu Hause, sei es in einer Auseinandersetzung auf der Arbeit oder im Alltag, sei es im Krieg oder durch einen Gewaltakt – sollten wir es lernen, nicht nur mit Worten, sondern aus ganzer Seele und mit unserem gesamten Leib - wenn es nötig ist - zu rufen: Vergib ihnen, Vater, denn sie wissen nicht, was sie tun. Ich werde nicht am Jüngsten Gericht vor Dich treten und gegen diese Menschen, die sich verirrt haben, Anklage erheben. Ich werde Dich vielmehr bitten: Vergib ihnen und verzeih! Sie hatten den Verstand verloren und waren verblendet! Das ist es, was uns die Gottesmutter und unser christlicher Glaube lehren.
Es gibt heute aber noch einen zweiten Grund zur Freude, denn zwei Patriarchen der Russischen Kirche sind nun auch offiziell heiliggesprochen worden: Zum einen ist es der erste Patriarch Russlands, Patriarch Iob. An seiner Seite steht nun auch Patriarch Tichon, der erste Patriarch, der nach einer mehr als zweihundertjährigen Unterbrechung den alten Patriarchenthron wieder bestiegen hat. Er ist einer aus unseren Tagen. Wie selten kommt es vor, dass wir einen Menschen heiligsprechen, an den sich einige – vielleicht auch viele – noch erinnern können. Ich weiß noch, wie wir in den Kirchen für Patriarch Tichon Andachten abgehalten haben, wie wir geweint haben, als er gestorben war, und dann voller Hoffnung für seinen Platzhalter Peter gebetet haben. Für uns, die wir außerhalb der Grenzen Russlands in der Fremde lebten, in der wir nicht heimisch werden konnten, war Patriarch Tichon das Bindeglied zu jener Heimat, die wir verloren hatten. Die gesamte getaufte Rus betete damals für ihn als ihren Ersten Hirten, weil er vor Gott stand und darum betete, dass Gott mit der russischen Erde, die von Krieg und Hass und von Machtkämpfen unter Brüdern geschlagen war, Erbarmen haben möge. Auch wir, weit entfernt und verlassen jenseits der Grenzen unserer Heimat, die für uns das Einzige war, was wir über alles liebten, wussten, dass wir durch den Patriarchen, durch ihn, ja in ihm, eins sind mit der Russischen Erde und unserer verlorenen Heimat.
Patriarch Tichon war ein Mensch aus der alten Zeit, der jedoch in die neue Zeit getreten war. Sehr schnell musste er mit dem, was um ihn herum geschah, zurechtkommen. Aus tiefer Weisheit heraus, die ihm Gott gab, verstand er die Dinge und die Ereignisse, die so noch nie vorgekommen waren. Er suchte die Wege Gottes zu erkennen und fand sie. Er führte die Kirche auf den richtigen Weg: auf den Weg des Bekennens zum Glauben, der Treue zu ihrem Volk und ihrer Erde gegenüber. Wie großartig ist dies! Was für eine Leistung ist es für eine menschliche Seele, sich von allem loszusagen, was ihr früher eigen war! Welche Größe bewies der Patriarch Tichon, der bereits als gereifter und alt gewordener Mann in ein neues Leben trat, das sich als ein sehr furchtbares erweisen sollte, in einer Welt voller Zwietracht, Blut, Angst und Leid. Was für eine Freude bedeutet es deshalb für uns zu wissen, dass er für uns betet. Er tut dies nicht erst jetzt, nachdem wir ihn heiliggesprochen haben. Er tut dies von seinem ersten Tage an, seitdem er Patriarch geworden ist. Er betet für uns sein ganzes Leben lang. Er betet für uns aus der Tiefe der Leiden, die er ertragen musste. Er beweint die Russische Erde und steht, seitdem er von uns gegangen ist, vor dem Angesicht Gottes und betet.
Nicht unsere Heiligsprechung hat ihn zu einem Heiligen gemacht. Es ist vielmehr wunderbar, dass nun die Zeit gekommen ist und die Russische Kirche als Ganzes offen und voller triumphierendem Jubel einen Menschen heiligspricht, der zu ihren neuen Märtyrern gehört. Hinter ihm stehen Millionen von Menschen, die ihr Leben als Märtyrer für ihren Glauben und für ihre unerschütterliche Liebe zu Gott und zu den Menschen hingegeben haben. In seiner Person verkünden wir die Ehre und den Ruhm aller derer, die in den letzten siebzig Jahren ihr Leben gelassen haben mit den Worten: Vater! Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Auch wir haben dies jetzt begriffen und die Tiefe und Größe, aber gleichzeitig auch die Tragik von all dem erfasst. Jetzt können wir hoffen und sicher sein, dass er für uns betet, denn die Kirche hat unser Wissen darum nun auch offiziell verkündet. Wir werden daher nun nicht nur zu jenen heiligen Bischöfen beten, derer wir schon früher gedachten. Zu ihnen gehören nun auch Iob, unser erster Patriarch, und Tichon, der erste Patriarch der neuen, furchtbaren, aber auch wunderbaren Zeit. Er steht an der Grenze zweier Welten. Er ist sozusagen der Türhüter, der die Russische Tragödie für die Gnade Gottes geöffnet hat. Ehre sei ihm und Dank. Ehre sei Gott und Ehre sei der Gottesmutter!
Amen