Sonntag vor der Kreuzerhöhung
„Lasst uns das Evangelium aufmerksam lesen, ja uns in es hineinlesen und uns die Frage stellen: Was will mir der Herr heute sagen? … Wenn wir dem Wort des Herrn zuhören und versuchen würden, wenigstens einen seiner Aussprüche einen ganzen  Tag hindurch in Leben zu verwandeln, dann wird auch die Zeit kommen, in der wir uns verändert finden werden, ja, zu neuen Menschen reifen. Und wenn wir dann sterben werden, dann öffnet sich uns das Reich Gottes voller Freude, ohne jegliche Angst.“ – aus einer Predigt zum Sonntag vor der Kreuzerhöhung von Metropolit Antonij von Sourozh
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Am Sonntag vor der Kreuzerhöhung wird ein Abschnitt aus dem Evangelium verlesen, der vielleicht die meiste Freude bereitet und die größten Hoffnungen macht. Es heißt dort, dass Gott in die Welt gekommen ist, nicht um sie zu richten, sondern zu erlösen. Der Herr Selbst trat in all Seiner Reinheit und Heiligkeit als Mensch in die Welt und hat uns gezeigt, wie wir leben können, wenn wir bereits auf der Erde der Ewigkeit angehören wollen, das heißt, dem Reich der Harmonie und der Liebe, und auch um uns herum jenes Reich errichten möchten, von dem alle träumen, das wir jedoch stündlich immer wieder zerstören …

Christus ist nicht gekommen, um die Welt zu richten. Es wird aber der Augenblick kommen, an dem jeder von uns vor das Angesicht Gottes treten wird. Dann werden wir sehen, wie sinnlos, vergebens und leer unser Leben war, und begreifen, dass wir uns um alles Mögliche gekümmert haben, außer darum, im vollen Sinne dieses Wortes, Mensch zu sein. In unserem Leben sorgten wir uns um dies und jenes, arbeiteten an den verschiedensten Dingen, doch nie ist es uns gelungen, auch nur eine Gemeinschaft um uns herum zu erschaffen, in der unter den Menschen die sich selbst vergessene, triumphierende und sieggeschwängerte Liebe regiert. Wenn wir auf den Herrn schauen, dann sehen wir in Ihm einen vollkommenen Menschen, wie jeder von uns ein solcher sein könnte, wenn wir uns nur Seiner Gnade, Seiner Kraft und Seiner Barmherzigkeit öffnen würden. Dann jedoch, wenn wir vor Ihn treten werden, werden wir dies alles begreifen und es wird wehtun. Und dies wird unser Gericht sein: denn die Liebe ist zu uns gekommen, doch wir haben sie verachtet. Gott war gekommen, um uns die volle Größe des Menschseins zu offenbaren, wir jedoch zogen es vor, als kleinkarierte Bürger dahinzuleben. Und zu welcher Niedrigkeit waren wir fähig! Die menschliche Gesellschaft, die ein Abbild hätte sein können von der Liebe innerhalb der Heiligen Dreifaltigkeit, haben wir in eine Hölle verwandelt, in eine Wüste, wo die Menschen sterben an Durst nach menschlichem Miteinander.

Doch der Herr ist auch als Heiland gekommen. Jeder von uns hat jetzt noch Zeit vor sich. Dies kann eine Stunde sein, aber auch Jahre. Auch junge Leute können sterben und Ältere noch sehr lange leben. Sich auf die Zeit zu verlassen, sollte man nie, denn alles man kann in einem Moment verändern, oder aber nichts in ganzen Jahrzehnten. Der Apostel Paulus wurde in einem Augenblick ein ganz anderer. Wir jedoch leben dahin, tragen zwar den Namen Christi, bleiben jedoch völlig fern der Schönheit und Herrlichkeit eines Lebens nach dem Evangelium.

Lasst uns deshalb versuchen, die Worte Christi ernst zu nehmen. Er ist in die Welt gekommen als Heiland, nicht als Richter. Das Heil besteht darin, einfach Mensch zu werden, das heißt, ein Mensch nach dem Abbild Gottes, Der uns geschaffen hat. Das gesamte Evangelium spricht nur davon! Wir sollten uns deshalb aufmerksam in das Evangelium hineinlesen! Nicht wie in eine Erzählung von Christus und den Menschen, die um Ihn waren, sondern wie in ein Buch, wo uns berichtet wird, wie wir selbst zu den Menschen werden können, die in das Reich Gottes eingehen, deren Augen leuchten und deren Herz sich freut, die in es eintreten, wie wenn sie nach Hause zurückkehren nach einem schweren arbeitsreichen Tag.

Lasst uns das Evangelium aufmerksam lesen, ja uns in es hineinlesen und uns die Frage stellen: Was will mir der Herr heute sagen? Kann ich eines Seiner Worte in meinem Leben umsetzen, jetzt gleich, damit ich wieder zurückfinde auf die rechte Bahn und würdig werde meines Mensch- und Christseins? Wenn wir uns Tag für Tag darum bemühen würden, irgendetwas in diese Richtung zu tun, wenn wir dem Wort des Herrn zuhören und versuchen würden, wenigstens einen seiner Aussprüche einen ganzen  Tag hindurch in Leben zu verwandeln, dann wird auch die Zeit kommen, in der wir uns verändert finden werden, ja, zu neuen Menschen reifen. Und wenn wir dann sterben werden, dann öffnet sich uns das Reich Gottes voller Freude, ohne jegliche Angst.

Amen

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