Heute gibt bzw. erinnert uns der Herr an die zwei grundlegenden Gebote: Daran, dass wir angehalten sind, Gott von ganzem Herzen und mit all unserem Verstand, mit all unseren Kräften und mit all unserer Macht und all unseren Fähigkeiten, die uns gegeben sind, zu lieben, wie ebenso auch unseren Nächsten, so wie wir uns selbst lieben.
Wenn wir das Wort Gebot hören, dann denken wir meist immer an einen Befehl, der uns vorschreiben will, was wir zu tun haben, und dass wir für den Falle, dass wir dem nicht nachkommen, die Verantwortung dafür zu tragen haben oder auch mit Strafe rechnen müssen. Das Wort Gebot hat jedoch eine viel weitere Bedeutung. Sie ist vielmehr eine Art Vermächtnis Gottes an uns für unser Leben, zu dem Er uns geschaffen und uns einen freien Wille gegeben hat, für das Er uns befähigt hat, selbständig auf eigenen Beinen zu stehen, und uns die Macht gegeben hat, zu wählen und uns zu entscheiden, ob wir unserer Berufung folgen oder uns aber von ihr abwenden wollen. Es ist also kein „Befehl“ Gottes, es ist vielmehr etwas, was Er uns mit auf den Weg gibt, ein Hinweis, so, wie ein Mensch, wenn er stirbt, seinen letzten Willen hinterlässt, mit der Hoffnung, dass seine Hinterbliebenen ihn erfüllen.
Wie gerne würde ich Gott von ganzem Herzen und mit all meinem Verstand und all meiner Fähigkeit zu lieben, wirklich lieben können. Doch ich weiß, dass ich mich gar nicht bemühe, Ihn vollkommen zu lieben, das heißt, mit jener völligen Hingabe, die bis zur Selbstaufgabe reicht. Wie traurig und unheimlich ist es, sich bewusst zu machen, dass wir von Gott so geliebt sind, wir selbst jedoch so unentschlossen sind, etwas für Gott zu tun. Er liebt uns so sehr, dass Er uns am Leben teilhaben lässt und das Risiko, das dabei besteht, auf Sich nimmt, weil Er weiß, dass wir Seine Liebe, die Er uns entgegenbringt, ablehnen können. Wir alle haben erlebt, was es heißt, sein Herz einem anderen Menschen zu öffnen und keine Erwiderung zu bekommen: Ich brauche dich nicht. Vielleicht magst du mich auch lieben, aber was geht mich das an? Ich möchte frei und ganz ich selbst sein, wozu habe ich deine Liebe nötig?
Das Maß der Liebe Gottes zu uns lässt sich auch daran erkennen, was Er uns in Christus geschenkt hat: Er ist Mensch geworden, Er wurde einer von uns. Er nennt uns Seine Brüder und Schwestern. Er hat Sein Leben für uns hingegeben.
Wenn wir mit ansehen würden, wie jemand sein Leben für einen Freund oder für einen tief geliebten Menschen hingibt, ja sogar für einen Menschen, der sich der Größe dieses Opfers gar nicht bewusst ist, wären wir zutiefst erschüttert und berührt. Wir würden ins uns gehen und in Gedanken versinken und uns Fragen stellen. Wie ist dies möglich? Habe ich denn nichts, womit ich auf die Gabe Christi antworten kann? Nicht nur auf die Gabe, sondern auch auf den Preis, den Er für mich bezahlt hat?
Trotzdem weiß ich von mir selbst - und ich glaube es gibt niemanden hier unter uns, der es sich nicht auch eingestehen wird - dass wir nicht wirklich, das heißt, mit all unserer Kraft uns bemühen, Gott zu lieben: von ganzem Herzen, mit all unserem Verstand und mit all unserer Fähigkeit zu lieben, die wir haben.
Weiter ist uns ein Wort des Heiligen Johannes des Theologen gegeben. Es ist wie eine Vorwarnung: Wenn jemand meint, Gott zu lieben, seinen Nächsten aber nicht liebt, lügt er. Denn wie können wir davon sprechen, Gott, der unsichtbar und unberührbar ist, zu lieben, wenn wir es nicht vermögen, unseren Nächsten zu lieben, der konkret vor uns steht und den wir anfassen können, dessen Not wir vor Augen haben und der uns seine Liebe anträgt, manchmal so großzügig, manchmal aber auch eher scheu?
Dies ist das zweite Gebot Christi, das zweite Wort des Lebens, das Er uns vorschlägt: Wenn du wissen möchtest, wie du Gott lieben kannst, wenigstens im Ansatz, dann lerne zunächst, deinen Nächsten zu lieben! Doch wie? Sofort denken wir in unserer Anmaßung an besondere Großzügigkeit, Heldenhaftigkeit und Opferbereitschaft. Christus aber meint: Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst! Was bedeutet das?
Zuallererst, auf einer einfachen materiellen Ebene bedeutet dies folgendes: Wie viel ich auch besitze oder im Leben zur Verfügung habe, ich sollte dafür sorgen, dass wenigstens ein Mensch, ein einziger Mensch, von mir so viel bekommt, wie viel ich mir vom Leben nehme. Dies könnte uns sehr weit bringen, doch wir tun nichts dergleichen. Wenn wir einmal darüber nachdenken, wie viel wir uns nehmen, immer mehr nehmen, ja sogar fordern und immer wieder fordern und dann sagen: Gut! Jede meiner Forderungen ist eine Forderung meines Nächsten an mich, alles, was ich nehme, sollte ich im gleichen Maß meinem Nächsten geben, wenigstens einem Menschen! – wie großzügig würde es dann bei uns zugehen im Leben! Wenn wir dies einmal erlernen könnten, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir auch Gott lieben lernen werden.
Das heutige Evangelium gibt uns einen Hinweis dazu: Unseren Nächsten zu lieben, ja sogar auch den, der uns am teuersten ist, von ganzem Herzen und wirklich großzügig zu lieben, hindert uns - hindert mich und auch jeden von uns – unsere Konzentriertheit auf uns selbst. Es gibt aber keinen anderen Weg jemanden zu lieben – wer es auch sein mag - als es zu lernen, von sich selbst abzusehen.
Und genau das ist es, was Christus zu uns sagt: „Wende dich von dir ab!“ Von sich abzusehen bedeutet, anstelle für sich zu leben, also nichts anderes als sich selbst im Blick zu haben und sich ganz auf sich zu konzentrieren, seinen Blick von sich zu nehmen und einmal zu schauen, wie weit das Leben ist, wie tief und reich! Sieh von dir ab und schau auf die Gesichter der Menschen! Versuche dich hineinzuversetzen in die Lebensumstände der anderen und deren Nöte! Lass dich erfüllen von der Freude der anderen! Schau und sieh! – und reiße dich von dir selbst los! Denn dann wirst du es lernen, andere so zu sehen, wie sie sind, ihre Nöte und ihren Durst zu erkennen, ihre Freude, aber auch ihre Armseligkeit. Dann wirst du es lernen, zu geben: zunächst ein wenig, doch dann immer mehr. Je mehr du es lernst zu sehen, umso mehr wirst du geben können und lieben lernen, wie du dich selber liebst – im gleichen Maß. Jeder von uns dürstet nach der Fülle des Lebens, nach Erfüllung und nach dem Wunder des Lebens. Lasst es uns lernen, dieses einem anderen zu bereiten! Dann werden wir es nämlich auch lernen, von uns selbst abzusehen! Dann werden wir lernen, anderen zu geben. Dann werden wir auch sehen, dass unser Herz es gelernt hat, mit Gott zu leben, offen und voller Liebe, mit Dankbarkeit und Freude!
Am Anfang steht das Gebot Christi: Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst! Es wurde jedem von uns gegeben, auch dem Schwächsten, denn jeder von uns liebt niemanden so gut, wie sich selbst. Dies ist das einfachste Maß! Wir wissen, was es zu tun gilt! Wir wissen, wie, wie viel und in welchem Maße! Lasst es uns also tun! Und dann, nachdem wir uns aus der Sklaverei befreit haben, das heißt, wenn wir aufgehört haben, Sklaven unserer selbst zu sein, werden wir sehen, wie weit unser Herz ist, wie stark und wie viel wir lieben können und wie wir dann auch Gott wahrhaft zu lieben beginnen, das heißt, von ganzem Herzen, mit all unserem Verstand und mit all unserer Kraft, die wir auch in unserer Schwachheit in uns finden. Denn nicht die Kraft ist das Wesen der Liebe, sondern die Schwachheit und Verletzbarkeit derer, die sich in Freuden ganz hingeben, sei es nun großzügig oder aber voller Scheu.
Amen