Die heutige Evangeliumslesung spricht von der Liebe. Sehr oft scheint es uns, wenn wir von unseren Erfahrungen, was die Beziehungen zwischen den Menschen hier auf der Erde betrifft, ausgehen, dass zwischen Gerechtigkeit und Liebe ein unüberwindlicher Abgrund liegt. Sehr oft geraten wir in eine Zwickmühle. Wir bemühen uns, barmherzig zu sein, sind damit aber ungerecht. Wir versuchen gerecht zu sein, erscheinen dabei aber hartherzig. Nicht von ungefähr hat deshalb einmal ein großer Schriftsteller aus der Vergangeheit gesagt, dass ein Richter zugleich sowohl über wie auch unter dem steht, was einen Menschen ausmacht. Darüber, weil er Macht hat, zu richten und zu urteilen. Anderen Menschen ist dies nicht gegeben. Darunter, weil es ihm nicht erlaubt ist, barmherzig zu sein.
Die Heilige Schrift jedoch verkündet uns, dass in Gott Barmherzigkeit und Wahrheit zusammengekommen sind. Die Wahrheit und Gerechtigkeit, die wir in Gott antreffen, unterscheidet sich allerdings sehr von jener, die wir in unserem Leben versuchen an den Tag zu legen. Gerecht zu sein bedeutet für uns, dass wir zunächst ein gerechtes Urteil fällen, dieses dann jedoch entweder zurücknehmen oder jemanden nachträglich vergeben, wobei wir jedoch in unserem Inneren auf keinerlei Weise Mitleid und Strenge miteinander versöhnen können. Sehr oft, wenn wir gerecht und hart sein wollen, um somit einem anderen Menschen zu helfen, müssen wir unserem Herzen gebieten zu schweigen. Gott geht so nicht vor. Christus sagt im Evangelium, dass unsere Rechtschaffenheit, die der Schriftgelehrten und Pharisäer übersteigen soll, also mehr sein soll, als bei jenen Menschen, die mit allem versuchen, rechtmäßig vor Gott zu leben und tadellos in Seinen Augen zu sein.
Doch was macht die Gerechtigkeit Gottes aus? Aus dem Alten und dem Neuen Testament sehen wir, dass sie in erster Linie darin besteht – und das Maß dieser Gerechtigkeit lässt uns manchmal erschauern - dem anderen sein Recht auf sein Sosein zuzugestehen, auch wenn dieser im Unrecht ist und auf Abwegen wandelt. Es versteht sich von selbst, dass dies nicht bedeutet, dass wir uns mit dem Bösen abfinden sollten und dunkle Wege für annehmbar erklären. Doch wir sollten lernen zu unterscheiden, wie dies auch Gott tut, zwischen den bösen Handlungen und dem Menschen, der sie vollführt, zwischen dem Menschen und seiner Krankhaftigkeit, die ihn zu seinem Tod führt, zwischen dem Menschen, der von der Sünde geschlagen und vom Bösen ergriffen ist und dem Menschen selbst, den Gott gewollt hat, den Er mit Liebe ins Leben gerufen hat, für den Er bereit war, Selbst Mensch zu werden und Sein Leben hinzugeben. Gott vermag diesen Unterschied zu ziehen. Eines der schrecklichsten und eindruckvollsten Beispiele dafür finden wir gleich am Anfang der Geschichte der Menschheit. Nachdem Kain Abel ermordet hatte und daraufhin spürte, dass er nun nicht nur von der Abweisung durch Gott, sondern auch vom Hass der Menschen verfolgt sein wird, sprach der Herr zu ihm: Ich mache dir ein Zeichen, und niemand wird dich von nun an töten ... Damit gab Gott quasi zu, dass Er Selbst dem Menschen die Freiheit gegeben hat - eine zum Teil schreckliche Freiheit - und dass Er diese Freiheit in Schutz nehmen wird, selbst dann, wenn der Mensch diese missbraucht und nicht nur das. Wenn es damit getan wäre, dann wäre Gott für alles Böse in der Welt verantworlich und wir könnten Ihn für all unser Leid verantwortlich machen, ja für all die Greultaten der Geschichte der Menschheit.
Doch Gott tut noch mehr: Er nimmt all die Folgen sämtlicher Entscheidungen, die ein Mensch aus freiem Willen oder aus Dummheit trifft, auf Sich. Er nimmt alle diese Folgen auf Sich und trägt sie auf Seinen Schultern. Die Menschwerdung Christi, des Sohnes Gottes, Sein Leben, Sein Leiden, Sein Tod, Sein einsames Sterben am Kreuz, scheinbar verlassen selbst von Gott-Vater, Sein Abstieg in den Hades – Er, der Sohn des Lebendigen Gottes, der zum Menschensohn geworden ist - all das legt eindrücklich Zeugnis davon ab, dass Gott die Folgen des menschlichen Bösen, ja all des Bösen in der Welt, auf Sich nimmt und sie zudeckt. Seine Rechtschaffenheit besteht darin, den anderen als solchen, wie er ist, anzunehmen, den Menschen in den Verhältnissen, die dieser sich selbst geschaffen hat, anzunehmen und dabei Selbst für jeglichen menschlichen Wahnsinn und menschliches Böse zu bezahlen.
Hier treffen Barmherzigkeit, sich opfernde Liebe und Gerechtigkeit in einer solchen Weise aufeinander, wie wir es weder erfassen, noch selbst in unserem Leben verwirklichen können. Sie treffen so aufeinander, dass es einem sogar bange wird. Einen anderen Menschen sogar dann anzunehmen, wie er ist, wenn dieser eine Gefahr für unsere Unversehrtheit und für unser Leben darstellt, ist kaum jemand in der Lage. Dabei sind wir dazu berufen, auch einen solchen Menschen auf uns zu nehmen und mitzutragen und zum Heil zu führen. Ich habe einigen von euch bereits von einer Frau erzählt, die zu unserer Gemeinde gehört, aber bald sterben wird. Als junge Frau lebte sie in Russland und wurde während der Revolution verhaftet. Es folgten ständige Verhöre. Eines Nachts, nachdem man sie viele Stunden lang vernommen hatte, fühlte sie, dass ihre Kräfte sie verlassen. Sie musste, komme was wolle, diese unendlich Kette von Befragungen zerreißen, auch wenn sie dafür bezahlen werden muss und bestraft wird. Sie wandte sich, bereit zu beleidigen und herauszufordern, an den, der sie verhörte, damit nur diese unendlichen Qualen ein Ende nehmen mögen. Doch plötzlich erblickte sie an der anderen Seite des Tisches einen Menschen mit einem von Müdigeit bereits grau gewordenem Gesicht, der ganz bleich war vor Kraftlosigkeit. In diesem Moment erblickte sie in diesem Uniformierten einfach einen Menschen, nicht einen Feind, sondern jemanden, der sich durch den grausamen Willen der historischen Umstände, nun an der anderen Seite des Tisches befand. Sie erblickte in ihm einen Menschen und lächelte ihm zu. Das Verhör war damit nicht beendet. Auch der andere lächelte und setzte seine Fragen fort. Sie jedoch war gegen die zerstörerischen Kräfte des Hasses bereits gefeit. Sie hatte den Menschen gesehen und konnte nun geduldig die Fragen dieses Menschen beantworten und ihr eigenes Dahinsiechen ohne Hass und Bitternis annehmen.
Dies ist ein großartiges Beispiel. Es stammt nicht aus der Heiligen Schrift, deren Beispiele uns oft fern erscheinen. Es ist nicht aus einer Heiligenvita entnommen, in denen uns die Menschen oft vorkommen, als hätten sie andere Kräfte und Möglichkeiten als wir zu Verfügung gehabt. Diese Begebenheit hat sich im Leben einer Frau zugetragen, die aus unseren Reihen stammt. Sollte es uns nun etwa nicht klar werden, dass der erste Akt der Gerechtigkeit, die einen anderen, der Böses tut, zum Heil führen kann, darin besteht, ihm zuzugestehen, dass er das Recht hat, so zu sein, wie er ist. Neben unserem Hass dem Bösen gegenüber, welches ihn gefangen hält, neben unserem Hass der zerstörerischen Kraft im Menschen sollten wir trotzdem dazu bereit sein, diesem Menschen zu dienen, ihm mit Ehrfurcht entgegenzutreten, ihm so zu dienen, wie wir Gott dienen, dass auch er das Heil erlangen möge. Der Abgrund zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in unserem Leben scheint unendlich groß zu sein. Wir sollten aber lernen, was es bedeutet, um das Heil eines Menschen willen diesen zu lieben und Gerechtigkeit walten zu lassen nach dem Vorbild der sich am Kreuz opfernden Liebe des Lebendigen Gottes, die Dieser uns, Seiner Kirche, als wertvollste und heiligste Gabe hinterlassen hat.
Amen