29. März 1987
Der Heilige Johannes Klimakos, dessen wir heute gedenken, schreibt in einer seiner Schriften: Man wird uns, Brüder, nicht dafür richten oder verurteilen, dass wir keine Wunder vollbracht haben und dass wir nicht prophetisch geredet haben, sondern dafür, dass wir nicht immerwährend unsere Sünden beweint haben. ...
Was ist Sünde? Weswegen sollte unser Herz immerwährend so betrübt sein, dass dieser Schmerz uns einerseits nicht verzweifeln lässt, sondern unserem Leben andererseits fortwährend immer neu Impulse gibt?
Sehr oft meinen wir, dass Sünde eine Übertretung des moralischen Gesetzes ist, die Verletzung unserer Pflicht oder ein fehlerhaftes Verhalten. Sünde ist jedoch etwas viel Grundlegeneres, was in uns wirkliche Trauer hervorrufen sollte und mehr noch: tiefen, schneidenden Schmerz.
Sünde – das ist Untreue. Sünde - das ist wie Fremdgehen. Das ist schändliches Verhalten Gott gegenüber. Denn Sünde bedeutet, dass wir die Worte Gottes an uns - wie oft Er sich auch uns wenden möge - für unwichtig halten. Wir zeigen Ihm damit, dass sie für uns keine Bedeutung haben, obwohl Er sich doch aus voller Liebe an uns wendet, um uns zu zeigen, wie wertvoll wir Ihm sind. Schaut, und begreift, wie viel Er von uns hält, dass Er sogar Sein ganzes Leben und Seinen Tod dafür hingegeben hat, damit wir das Heil erlangen können, damit wir Seiner Göttlichen Liebe Glauben schenken!
Deshalb bedeutet es, wenn wir sündigen, dass wir uns von Dem abwenden, der uns um Leben und Tod liebt. Wenn wir Ihm nicht mit unserer Liebe, mit Treue und Hingabe antworten, bedeutet dies in letzter Kosequenz, dass Sein Leben und Sein Tod für uns eigentlich wenig bedeutsam sind. Und als Ergebnis eines solchen Verhältnisses zu Gott verletzen wir fortwährend all jene Gesetze des Lebens, die uns eigentlich zum ewigen Leben führen wollen, die uns zu wahren und vollkommenen Menschen machen würden – so wie Christus ein solcher wahrer Mensch war – in völliger Harmonie zwischen Gott und uns.
Alle die konkreten Sünden, die wir fortwährend tun, sei es nun die Grobheit, mit der wir miteinander umgehen, unsere Gleichgültigkeit zu einander, die Tatsache, wie leichtfertig wie andere verurteilen und richten, wie oft wir uns von Menschen abwenden, die in Not sind, wie unachtsam wir auf die Menschen reagieren, die uns ihre Liebe und sich selbst schenken wollen, wie sorglos wir all die Not, die materielle und geistige, um uns herum hinnehmen – dies alles hat seine Ursache in der Kälte unserer Herzen.
Deshalb spricht Christus nicht umsonst in der heutigen Evangeliumslesung: Einen solchen Geist kann man nur durch Gebet und Fasten vertreiben. Fasten bedeutet, sich von allem abzuwenden, was uns verführerisch abbringen will von der Liebe, von unserer Loyalität und Treue Gott gegenüber und unsere Unversehrtheit zerstören will. Das Gebet ist unser Dialog mit dem Lebendigen Gott, Der die Liebe ist und in Dem allein wir die Kräfte und die Festigkeit finden können, um zu lieben.
Es versteht sich deshalb von selbst, warum Christus dem Mann, der seinen an Fallsucht leidenden Sohn zu den Jüngern Christi gebracht hatte und nun Christus Vorhaltungen machte, dass diese ihn nicht heilen konnten, antwortete: Bring ihn zu Mir! All unsere Bemühungen bringen uns nichts, wenn sie uns nicht zu Christus führen.
Es kann sich uns nun die Frage stellen, ob wir wirklich so weit weg sind von Gott, dass wir diese Gottesferne im Verlaufe unseres gesamten Lebens beweinen sollten. Wer von uns kann von sich jedoch behaupten, dass sein Herz in jedem Augenblick von Liebe brennt und dass er ständig von jenem tiefen Gefühl des Mit Gott Seins erfüllt ist, dass Er ihn ständig nahe bei sich fühlt und mit Ihm im Zwiegespräch ist?
In unserem Verhältnis zu Gott sollten wir Verliebten gleichen, deren Herz in jedem Augenblick, zu jeder Tag- und Nachtzeit - sei es nun wach oder im Schlaf - jubelt und erfüllt ist von der Liebe, die dieses Herz bis an den Rand ausfüllt, die eine einzige Freude ist und ein Jubel, gleichzeitig aber auch Frieden und Ruhe bedeutet, Festigkeit und Wagemut. Es sollte eine Liebe sein, die, wenn wir um uns schauen, jeden Menschen in einem neuen Lichte sieht, in jedem das Abbild Gottes erkennt, wie es in jedem erstrahlt, dem wir begegnen. All dies sollte uns unendliche Freude bereiten.
Wenn wir uns jedoch fragen: Wie weit wir von Gott entfernt sind und eher wahrscheinlich gar nicht verstehen können, wie groß dieser Abstand überhaupt ist, weil wir nur sehr wenig Erfahrung haben, was es heisst, Gott nahe zu sein, dann sollten wir uns eine zweite Frage stellen: Was für ein Abstand liegt zwischen mir und den Menschen, die mich umgeben? Wie treu bin ich ihnen gegenüber? Wie stark gebe ich mich ihnen hin, wie viel Freude empfinde ich für meine Mitmenschen? Und umgekehrt: wie oft richte und verurteile ich andere, wie gleichgültig sind mir die anderen, wie achtlos gehe ich mit meinen Mitmenschen um, wie viel vergesse ich, wenn es darum geht, etwas für andere Menschen zu tun? ... Wenn auf mich dies alles wirklich so zutrifft, dann bedeutet dies, dass Gott für mich nicht das Maß aller Dinge ist, dann ist Gott nicht mein Herr, Der in meinem Herzen, in meinem Verstand, in meinem Wesen, in meinem Leben regiert. Wenn wir weiter darüber nachdenken, wie oft wir zwischen dem Ruf Gottes an uns und unseren Wünschen als Mensch schwanken und wie oft wir uns von dem Bösen verführen lassen, dann können wir immer wieder nur sagen: Wie weit ich doch von Gott entfernt bin. ...
Solange wir diese Harmonie mit Gott in uns nicht gefunden haben, werden wir weiterhin jeder für sich und innerlich zerrissen dahin leben müssen. Solange wir diese Harmonie in Gott nicht gefunden haben, werden wir uns einander immer fremd bleiben.
Das ist der Grund, warum der Heilige Johannes Klimakos uns dazu aufruft, uns ganz auf diese eine Frage zu konzentrieren, wie wir zu Gott stehen. Denn davon hängt alles andere ab.
Gott ist wie der Schlüssel zur Harmonie. Nur dank dieses Schlüssels kann man eine Melodie lesen und auch singen. Gott ist – ich zitiere einen anderen Schriftsteller – wie ein dünner Faden, der Blumen zusammen bindet, die ohne diesen Faden auseinanderfallen würden. So wie die Blumen zerfallen auch alle Tugenden, jede Schönheit, alle Wahreit in Stücke, wenn sie nicht von dieser wunderbaren Liebe verbunden werden, von diesem Jubel und von dieser Freude, welche uns nur in unserem Mitsein mit Gott gegeben sind. Denn Er ist die Liebe. Er ist das Leben. Er ist die Wahrheit und die Freude und das Licht und der Jubel.
Lasst uns nun deshalb auch noch ein Wort darüber verlieren, was der Heilige Johannes unter Reue versteht, zu der er uns aufruft. Sie ist nicht nur einfach eine leere Beweinung der Vergangenheit, sie ist kein vergebliches, fruchtloses Leiden darüber, dass wir nicht so sind, wie wir eigentlich hätten sein wollen. Sie ist viel mehr ein Schrei zu Gott: Komm Herr, komm schnell! Wenn wir aus ganzem Herzen schreien werden, mit unserem gesamten Verstand, aus all unserer Not heraus, dann kommt der Herr zu uns und im Mitsein mit dem Lebendigen Gott finden und entdecken auch wir uns und alles um uns wird in Schönheit erglänzen, denn wir sind in das Reich Gottes getreten!
Amen