11. Februar 1990
Wir sollte man dieses Gleichnis „übersetzen“? Es ist so reich und so wunderbar und es beinhaltet so vieles, was uns direkt angeht. Ich versuche es noch einmal zu tun.
Es kommt oft vor, dass wir tiefe Beziehungen, die für uns sehr bedeutsam sind und einen Sinn haben, kaputtmachen, weil wir uns daran gewöhnt haben, dass ein uns liebender Mensch fortwährend gibt und dies großzügig und immer wieder tut, ohne dabei an sich selbst zu denken. Er gibt einfach. Und wie schnell passiert es, dass wir ihn so einfach vergessen und nur auf die Gaben schauen. So etwas ist dem Verlorenen Sohn passiert. Und so etwas geschieht auch täglich unter uns, in unseren Beziehungen zueinander.
Dabei sind diese einst entstanden, weil wir wie durch ein Wunder plötzlich einen Menschen erblickt haben - ja, wirklich einen Menschen im wahrsten Sinne dieses Wortes erblickt haben: in all seiner Schönheit mit den Augen unserer Seele. Dann zeigte sich uns dieser Mensch, wie er lebt, er offenbarte sich uns in all der Größe und Herzlichkeit seiner Seele und in seiner Bereitschaft Opfer zu bringen. Dann jedoch, nach einiger Zeit, verliert dieser Mensch immer weiter seine Bedeutung für uns, während wir all das jedoch, was er – oder sie – uns gibt, für immer selbstverständlicher halten.
Ich spreche hier nicht von irgendwelchen materiellen Dingen. Ich rede von meiner menschlicher Wärme, von Zärtlichkeit und Verständnis und von den vielen anderen Dinge, die eine Beziehung ausmachen. Man vergisst, woher dies alles kommt, die Quelle verliert ihren Wert und wichtig allein ist nur noch, dass das Wasser in Strömen aus ihr fließt.
Wenn wir so weitermachen, dann entfremden wir uns immer mehr von diesem Menschen. Er existiert für uns immer weniger und weniger. Der Verlorene Sohn sprach zu seinem Vater. „Gib mir all dass, was mir zusteht, wenn du einmal tot sein wirst“! Mit anderen Worten: Lass uns doch verabreden, dass du für mich in Zukunft nicht mehr existierst! ich brauche von dir nur das, was du mir geben kannst. …“ So wie der Verlorene Sohn leben auch wir dann einige Zeit von dem, was wir bekommen haben. Unser Herz ist immer noch warm von der Zärtlichkeit, die man uns geschenkt hat, unser Verstand ist immer noch reich an den Bildern und Ideen aus den vergangenen Begegnungen. Doch mit der Zeit wird auch dies immer weniger, weil es sich schon nicht mehr aus der Quelle speist. Danach verwandelt sich alles nur noch in Erinnerungen und wir beginnen uns zu sehnen. Unsere Seele hungert.
All die Zeit, in der wir mit den empfangenen Gaben leben konnten, waren wir umgeben von Menschen, die auch von dem etwas abbekommen wollten, was wir erhalten hatten. Wir waren wie der Verlorene Sohn umringt von Menschen. Diese klebten an ihm jedoch nur, solange er noch durch die Gaben seines Vaters reich war. Doch als davon nichts mehr übrig war, waren sie alle verschwunden. Und so hat die Armut auf zweierlei Weise in sein Leben Einzug gehalten. Er hatte eine einzige menschliche Beziehung ausgeschlagen und wurde nun selbst von den anderen gemieden. Und so vereinsamte er. Er versuchte sich irgendwie zu ernähren, doch es gab nichts, was er essen konnte und er hungerte.
So etwas geschieht auch oft in unserem Leben. Wir reißen uns von der Quelle unserer Beziehungen los und werden damit gemieden von all denen, die dachten, dass sie durch uns auch ewig von den Bächen trinken können, die dieser Quelle entströmten. So müssen auch wir erfahren, was es bedeutet, wenn die Seele hungert.
Wenn wir doch in diesem Augenblick begreifen würden, dass das Eigentliche, was wir vergessen und verloren haben, ein gutes lebendiges Verhältnis zu Gott ist und ebenso lebendige Beziehungen zu den Menschen, die uns umgeben!
Wir können nicht unser ganzes Lebens von Geschenken leben. Ein Leben ist nur möglich in einem Verhältnis zu Gott und in Beziehungen zu Menschen, quasi in einem ununterbrochenen gegenseitigem Austausch, in dem wir ebenso Geber und Nehmer sind, sowohl der göttlichen wie auch der menschlichen Großzügigkeit. Wenn wir aber hungern, wenn wir verzweifeln, wenn wir am Hunger sterben, erinnern wir uns dann, dass wir uns von Gott abgewandt haben, d.h. von dem Lebendigen Gott, und dass wir das lebendige Brot vom Himmel ausgeschlagen haben? Dass wir mit den Menschen um uns herum unehrliche Beziehungen eingegangen sind. Dass wir Dinge weitergegeben haben, die uns eigentlich gar nicht gehörten,die wir einfach nur genommen hatten in dem Augenblick, als sie uns gegeben wurden?
Dann ist es an der Zeit, in sich zu gehen und tief und aufmerksam über sich nachzudenken, um zu verstehen, dass wir selbst uns vor dem Himmel schuldig gemacht haben, dass wir uns vor dem Vater, vor dem Bruder, vor unserem Nächsten, vor die Schwester, ja vor jeden Menschen um uns herum, versündigt haben. Sich versündigt haben, bedeutet, dass wir Beziehungen haben abbrechen lassen, dass wir versucht haben, sich von ihnen loszusagen – oder vielmehr - dass wir versucht haben, überhaupt keine Beziehungen mehr zu haben, in denen man auch geben muss. Wir haben uns vielmehr nur noch wie ein Blutegel an jemanden geheftet.
Wenn dem so ist, dann ist es Zeit zurückzukehren: nach Hause, dorthin und zu Dem, Der uns genährt hat, Der uns großzügig immer gegeben hat, Der sich um uns gesorgt hat. Dies bedeutet in letzter Konsequenz heimzukehren zu Gott, denn Er ist die letzte Quelle aller Güter.
Doch wie oft, wenn wir versuchen zurückzukehren, treffen wir nicht auf den Vater des Verlorenen Sohnes, sondern auf dessen älteren Bruder, der es nie gekonnt hatte, wirkliche gegenseitige Beziehungen in Liebe und Freundschaft aufzubauen, weder zu uns, noch zu dem Vater. Wir treffen auf einen, der sich rühmen kann, dass er immer nach seinem Gewissen gehandelt hat, dass er im Hause seines Vaters ehrlich gearbeitet hat und alles getan hat, was zu tun war. Doch dabei hat er alles nur gleichgültig getan, so wie man eine Pflicht erfüllt, der man nicht entrinnen kann, oder wie einen Job, den man des Geldes wegen macht. Eine Arbeit, nur um versorgt zu sein, eine Arbeit als Austausch dafür, dass man zum Haus gehört und sein Essen bekommt.
Auch darüber müssen wir nachdenken, denn aus unserer Erfahrung heraus, was unsere eigenen menschlichen Beziehungen betrifft, spielen wir nicht immer nur die Rolle des Verlorenen Sohnes. Sehr oft sind wir eher wie der ältere Bruder und geben dem, der zu uns kommt und bereut, dass er aus eigener Schuld die Beziehung mit uns aufgegeben hat, dass er – oder sie- sich wie ein Parasit benommen hat, dass er aber nun wieder unser Freund sein möchte, zur Antwort – sei es nun mit Worten oder mit einer Geste: „Das alles war einmal. Wir hatten eine Freundschaft, wir haben einmal viel zusammen gemacht und das war damals sehr wichtig für mich. Doch du hast alles kaputt gemacht! Meine Wunden sind verheilt, ich möchte nicht, dass sie sich noch einmal öffnen! Für mich bist du nichts mehr als Vergangenheit. Du bist tot für mich. Versuch es bei anderen! Vielleicht wollen die dich wieder neu ins Leben zurückbringen …“ Wie oft reagieren wir so wie der ältere Bruder!
Unser Verhalten gleicht so oft überhaupt nicht dem des Vaters, der in keiner Sekunde aufgehört hatte, den Verlorenen Sohn zu lieben. Selbst in dem Moment, als dieser sich von ihm abgewandt hatte, ihn verlassen hatte und wartete, wann er denn endlich sterben möge, um alles selbst für sich zu haben, was der Vater mit Mühen und Weisheit und mit sich opfernder Liebe über Jahre zusammengetragen hatte, hatte der Vater nie aufgehört seinen Sohn zu lieben. Der ältere Bruder hat dies nie getan – besser jedoch wäre zu bemerken - er hatte nie vermocht zu lieben, weil er nur mit solchen Menschen in eine Beziehung trat, die ihm zu etwas nutze waren.
Doch der Vater läuft seinem Sohn entgegen, um den Verloren Gegangenen in den Arm zu nehmen. Haben wir jemals so etwas getan? Wenn uns jemand tief und grausam beleidigt hat, haben wir dann jemals den ersten Schritt getan, um wieder aufeinander zuzugehen. Haben wir uns dann daran erinnert, dass der, der die Beleidigung einstecken musste, es immer leichter hat, den ersten Schritt zu tun, weil es für ihn nicht erniedrigend ist und er keine Angst zu haben braucht, dass man ihm plötzlich mit einer Absage entgegentreten wird? Derjenige jedoch, der einen anderen beleidigt hat, fürchtet sich vor der ihm vielleicht bevorstehenden Erniedrigung und vielleicht auch Absage. Haben wir jemals den ersten Schritt getan, um jene zum Leben zurückzuführen, die geistig-menschlich bereits tot waren? Sind wir dazu bereit, ihnen ihre ersten, neuen Kleider zu geben, dass heißt sie wieder in die vergangene gegenseitige Beziehung aufzunehmen? Waren wir dazu bereit, nachdem diese alles, was uns hoch und teuer war, mit den Füßen getreten, uns erniedrigt und beleidigt hatten, ihnen wieder unseren Ring anzuvertrauen, der ihnen Macht gibt über uns, über unser Hab und Gut, über unsere Ehre? Haben wir ihnen – wie es in dem Gleichnis heißt – neues Schuhwerk gegeben, sodass sie wieder ohne Gefahren laufen können?
Denken wir in solchen Kategorien? Wenn wir aber so beginnen würden zu denken, dann könnte jeder von uns feststellen, wie es um ihn steht. In jedem von uns sind alle drei Personen dieses tragischen und wunderbaren Gleichnisses miteinander verwoben. Es genügt aber nicht, dies einfach nur festzustellen. Nachdem wir uns darüber klar geworden sind, wer wir sind, sollten wir auch etwas tun. Wir sollten uns entscheiden, wir sollten von der Person Abstand nehmen, die wir bisher waren und zurückkehren und um Verzeihung und Erbarmen bitten. Gott um Vergebung zu bitten ist leicht, denn Gott schickt uns scheinbar und fühlbar niemals mit leeren Händen von Sich fort. Er sagt niemals zu uns: Geh fort von Mir! Andere jedoch um Verzeihung zu bitten, die wir beleidigt haben und die uns erniedrigt haben ...
Lasst uns darüber nachdenken. In der nächsten Woche werden wir des Sturzes des Menschen gedenken. Wir werden uns erinnern, dass die Menschheit das Paradies, die Einheit mit Gott und miteinander und die Harmonie mit der Schöpfung aufgegeben hat und dabei alles verloren hat. Heute werden wir das letzte Mal gewarnt. Wir können etwas im Verlaufe der kommenden Wochen tun. Nicht alles, aber wenigstens etwas, sodass wir, wenn wir vors Gericht treten werden, den Richter anschauen können und sagen: ich habe nichts, was mich rechtfertigen konnte, doch ich habe getan, was ich konnte. Sei mir gnädig und lass auch mich das Heil erlangen.
Amen