Vom barmherzigen Samariter (Lk. 10, 25-37)
„Lasst uns deshalb nun aus der Kirche hinausgehen und dieses Gleichnis im Herzen bewahren. Nicht als eins der wunderbaren Worte, die Christus uns hinterlassen hat, sondern als ein konkreter Weg, als ein konkretes Beispiel dafür, wie Er uns aufruft zu leben und für einander mit aller Kraft dazusein. Lasst uns deshalb aufmersam um uns schauen und uns bewußt sein, dass manchmal schon ein winziger Tropfen Herzlichkeit, ein kurzes warmes Wort oder eine kleine Geste der Aufmerksamkeit das Leben eines anderen Menschen verwandeln können.“ – aus einer Predigt zum Gleichnis vom barmherzigen Samariter von Metropolit Antonij von Sourozh
Статья

29. November 1987

Ich möchte auf zwei oder drei Dinge aus der heutigen Evangeliumslesung aufmerksam machen. Dort heisst es, dass ein Mensch von Jerusalem nach Jericho ging. Im Alten Testament war Jerusalem der Ort, an dem Gott Seine Heimstatt hatte, wo man Gott verehrte, ein Ort des Gebets. Nun ging dieser Mensch von dort weg, vom Berg der Beschauung ins Tal, wo das Leben in seinen gewöhnlichen Bahnen floss. 

Auf dem Weg dorthin überfielen ihn Räuber, rissen ihm die Kleidung vom Leibe, schlugen ihn blutig und liessen ihn auf dem Weg liegen. Drei Menschen kamen - ebenfalls auf dem Weg von Jerusalem - einer nach dem anderen vorbei. Sie kehrten von dort zurück, wo Gott wohnt, wo sie vor Ihm niedergefallen waren, gebetet hatten und Seine Anwesenheit verspürt. Zwei von ihnen sind einfach vorbeigelaufen. Der Text des Evangeliums macht sehr deutlich, dass der Priester einfach vorüberging, ohne überhaupt ein Auge auf den armen Mann geworfen zu haben. Warum auch? Er selbst gehörte zu „den Geistlichen“, die menschlichen Nöte betrafen ihn nicht. So dachte er jedenfalls. Er hatte aus den Gebeten zu Gott, Der Selbst die Liebe ist, nichts gelernt. Ein anderer, ein Levit, kam die Straße entlang, einer, der belesen war und die Heilige Schrift wie sein eigen kannte. Doch auch dieser hatte Gott nicht begriffen. Der Levit trat heran, schaute auf den Menschen, der verletzt dem Sterben nahe war, und ging dann doch weiter seines Weges. Er hatte andere Dinge im Kopf, höhere als das menschliche Leben und das Leiden eines Menschen. So dachte er jedenfalls.

Dann kam ein Mensch, den die Juden verachteten, einfach nur aus dem Grunde, weil er war, wer er war. Nicht wegen seiner persönlichen oder moralischen Vergehen, sondern einfach nur, weil er ein Samariter war, eine Ausgestoßener, einer, den die Inder einen Paria nennen. Dieser beugte sich über den Verletzten, weil er wusste, was es heisst, auf die Straße geworfen zu sein und unerwünscht und wie es sich anfühlt, wenn andere voller Verachtung und manchmal auch voller Haß einen großen Bogen um einen machen. Er neigte sich zu dem Geschlagenen und tat alles, was er konnte, um ihm Erleichterung zu verschaffen und dessen Wunden zu heilen. Er brachte ihn an einen Ort, wo dieser ausruhen konnte. Dies alles tat er von sich aus. Er bezahlte nicht nur dem Wirt der Herberge die Ausgaben für die Pflege des Verletzten, er opferte auch seine Zeit, all seine Aufmerksamkeit und sein Herz. Er gab alles, was auch wir geben können für die Menschen, die um uns sind.

Jetzt haben wir zusammen den Morgen hier verbracht, wo Gott Selbst anwesend ist, hier, wo Er unter uns wohnt. Wir haben Seine Stimme gehört, die zu uns von der Liebe spricht. Wir haben unseren eigenen Glauben an diesen Gott, der Die Liebe ist, verkündet, an den Gott, Der Seinen Einziggeborenen Sohn für jeden von uns hingegeben hat. Nicht nur für uns alle zusammen liegt somit nun das Heil vor uns, sondern für jeden von uns ist es sein ganz persönliches Heil. Jetzt werden wir für eine ganze Woche aus der Kirche hinausgehen bzw. bis zum nächsten Mal, wenn wir wieder in die Kirche kommen. Wir werden bis dahin nicht nur auf einen Menschen treffen, sondern auf viele. Werden wir, wie der Priester und der Levit die ganze Zeit nur darüber nachdenken, was wir hier gehört und erfahren haben und uns dabei an der Freude und der Rührung im Herzen ergötzen, an anderen jedoch einfach vorübergehen, weil die Sorge für die „kleinen Dinge“ unseren Seelenfrieden stören und unseren Verstand und unser Herz von jenem wunderbaren Gefühl der Begegnung mit Gott und des Mitseins mit Ihm ablenken könnte? Wenn dies so ist, dann haben wir sehr wenig, wenn überhaupt etwas, von dem Evangelium, von Christus und von Gott begriffen. Wenn wir wie der Jüngling oder der Schriftgelehrte fragen: Wer ist mein Nächster? Wer ist der, für den ich von meinem tiefen Erleben im Herzen, von den hohen Interessen meines Geistes, von allem Schönen, was ich im Inneren erlebe, ablassen soll, dann lautet die Antwort Christi ganz schlicht und einfach: Jeder! Jeder, der in Not ist, egal was es ist, sei es, dass er etwas zu Essen braucht oder ein Dach über dem Kopf oder auch nur Zärtlichkeit und Herzlichkeit vermisst, Aufmerksamkeit und Freundschaft.

Und wenn eines Tages - das kann nie passieren, das kann aber auch jeden Tag so kommen - von uns an einem bestimmten Moment mehr verlangt wird, dann lasst uns bereit sein und unseren Nächsten so lieben, wie Christus uns dies gelehrt hat: Bereit, selbst unser Leben für den anderen hinzugeben. Unser Leben hingeben heisst hier nicht, sterben zu müssen, sondern Tag für Tag unsere gesamte  Fürsorge allen zu schenken, die dieser bedürfen, all jenen, die Leid tragen und Tröstung suchen, denen, die den Boden unter den Füßen verloren haben und einen festen Halt und Unterstützung brauchen, jenen, die hungern und etwas zu Essen benötigen, die materiell in Not geraten sind, die nichts zum Anziehen haben oder aber jenen, die sich moralisch-geistlich verfahren haben und auf ein Wort hoffen, welches wie lebendiges Wasser aus dem selben Glauben herausströmt, den wir hier lernen und der unser Leben ist.

Lasst uns deshalb nun aus der Kirche hinausgehen und dieses Gleichnis im Herzen bewahren. Nicht als eins der wunderbaren Worte, die Christus uns hinterlassen hat, sondern als ein konkreter Weg, als ein konkretes Beispiel dafür, wie Er uns aufruft zu leben und für einander mit aller Kraft dazusein. Lasst uns deshalb aufmersam um uns schauen und uns bewußt sein, dass manchmal schon ein winziger Tropfen Herzlichkeit, ein kurzes warmes Wort, eine kleine Geste der Aufmerksamkeit das Leben eines anderen Menschen verwandeln können, der andernfalls mit seinem Leben hätte in der Einsamkeit  zurechtkommen müssen. Möge Gott uns helfen, dass auch wir auf alle Menschen in allen Lebensbereichen so zugehen, wie der barmherzige Samariter es getan hat.

Amen  

Комментарии ():
Написать комментарий:

Другие публикации на портале:

Еще 9