«Mein Reich ist nicht von dieser Welt.
Wäre mein Reich von dieser Welt,
so würden meine Diener kämpfen»
Johannes 18,36
Auf diese Frage hat das Moskauer Patriarchat der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) mit seinem, im Juli 2008 vorgelegten Grundlagendokument zu den Menschenrechten, geantwortet. Mit der Antwort der Gemeinschaft Europäischer Kirchen in Europa (GEKE) vom Mai 2009[1] und der Reaktion darauf aus dem Institut für Ökumenische Studien der Universität Freiburg/Schweiz (ISO) von Barbara Hallensleben, Nikolaus Wyrwoll und Guido Vergauwen ist eine ökumenische Debatte in Gang gekommen.
Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich auf den, in der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift publizierten, ISO-Text. Die dort gegen die GEKE-Antworten formulierten Einwände münden in die Kritik an einem, dem «ekklesiologische[n] Defizit der evangelischen Tradition» geschuldeten, «politischen Defizit» bei der Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche.[2] Gemäss dieser Fundamentalkritik wäre die Uneinigkeit in Menschenrechtsfragen nur ein Symptom der konfessionellen Differenzen. Ohne die Theologie zu ignorieren, erscheint es demgegenüber sinnvoll, (zunächst) von den Menschenrechten her zu fragen: Ist ein Dissens hinsichtlich Status und Relevanz der Menschenrechte zwischen den beteiligten Kirchen so unvermeidbar, wie bei theologischen und ekklesiologischen Fragen? Sitzen die christlichen Kirchen nicht vielmehr - sowohl von der Sache, wie von ihrem Selbstverständnis her - bei den Menschenrechten in einem Boot (oder sollten das zumindest)?
Ambivalente Ambivalenzwahrnehmungen
Das ISO-Autorenkollektiv bestätigt die Beobachtung der ROK, «dass die Menschenrechte sehr verschieden interpretiert und angewandt werden können» (498) mit Hinweisen auf den Karikaturenstreit, Gendergerechtigkeit am Berg Athos, Aids-Prävention durch Kondome, Umgang mit Homosexualität und Schwangerschaftsabbruch oder Kinderpornographie. Abgesehen vom Karikaturenstreit handelt es sich um Beispiele, bei denen erstens unklar bleibt, worin jeweils die behauptete menschenrechtliche «Vieldeutigkeit» besteht und zweitens der Konflikt - wenn überhaupt - nicht auf menschenrechtlicher Ebene liegt: Es gibt ein Menschenrecht auf Gleichbehandlung der Geschlechter, aber kein Menschenrecht auf eine Gipfelbesteigung des Athos. Es gibt ein Menschenrecht auf Schutz von Leib und Leben, aber kein Menschenrecht auf Kondome. Es gibt ein Menschenrecht auf Schutz vor persönlicher Diskriminierung, aber kein Menschenrecht, das eine öffentliche Person ermächtigt, die Regeln ihrer institutionalisierten Funktion selbst zu definieren. Es gibt ein Recht auf Arbeit, aber kein Recht auf einen bestimmten Arbeitsplatz. Es gibt ein Recht auf Pressefreiheit, das aber niemanden berechtigt, die Rechte anderer zu verletzen oder zu missachten. Die genannten Beispiele belegen nicht die «Vieldeutigkeit» der Menschenrechte, sondern die Missverständnisse, die hinsichtlich der Funktion und dem Zweck von Menschenrechten bestehen.
Wozu Menschenrechte?
Menschenrechte garantieren jedem Menschen das Recht auf den Schutz seiner Würde. Als «Menschenwürdeschutzrechte» wehren sie die entwürdigende, menschenrechtsverletzende Behandlung von Menschen ab. Die Abwehrrechte (der so genannten ersten Generation) formulieren negative Freiheitsrechte, die die Freiheit jeder und jedes Einzelnen vor den Übergriffen Dritter schützen. Diese Grundrechte sind von moralischen Forderungen sorgfältig zu unterscheiden: Menschenrechte richten den Blick auf das bedrohte - und nicht das souverän handelnde - Subjekt: Sie legen fest, was (negativ) auf keinen Fall getan werden darf und nicht, wie (positiv) gehandelt werden soll. Konkret: Die Ablehnung der Schwangerschaftsverhütung durch die offizielle römisch-katholische Sexualmoral hat nicht den normativen Status eines «allgemeinen Gesetzes». Daraus folgt aber weder - wie die ROK behauptet und die ISO zustimmend referiert - ein Zwang, «gegen die Göttlichen Gebote zu denken und zu handeln», noch eine Behinderung daran, «das wichtigste Ziel im Leben eines Menschen - die Befreiung von der Sünde und die Erlangung des Heils - zu erreichen».[3]
Im Gegenteil: Die Menschenrechte ermöglichen, dass jeder Mensch den eigenen religiösen Überzeugungen und moralischen Haltungen folgen kann, sofern nicht Dritte dadurch in ihren Rechten eingeschränkt werden. Kein Menschenrecht zwingt zu Schwangerschaftsverhütung, Abtreibung, Homosexualität oder Promiskuität. Menschenrechte richten sich genau gegen staatliche Bestimmungen, die den Bürgerinnen und Bürger solche Handlungen aufzwingen. Wie würde die russische orthodoxe Kirche reagieren, wenn der russische Staat eine chinesische Familienpolitik betreiben oder von einer islamischen Regierung angeführt würde? Dann könnte sie sich zur Verteidigung ihrer eigenen religiösen Überzeugungen und Moralvorstellungen allein auf die Menschenrechte berufen - jedenfalls so lange, wie der Menschenrechtsschutz nicht auf das Niveau der Vorstellungen der ROK herabgesenkt würde.
Das Beispiel klingt hypothetisch, vor allem für eine zur Zeit staatlich gestützte Mehrheitskirche. Menschenrechte sind jedoch nicht für die Mächtigen und Mehrheiten da, sondern für die Ohnmächtigen und Minderheiten, auch für Menschen, die - um beim Beispiel zu bleiben - einen anderen Glauben bekennen und sich an anderen Normen orientieren als die im Staat massgebliche Kirche. Indem Menschenrechte die einzelnen Menschen schützen und nicht die Interessen von Staaten, sind sie «immer auch Stachel im Fleisch einer Kultur, welcher die eigenen Traditionen und Gewohnheiten angenehm geworden sind».[4]
Thetisch zugespitzt beruhen die Positionen im ROK- und ISO-Text auf einem doppelten Irrtum: einem Adressaten- und einem Reichweitenfehler. Der Adressatenfehler besteht darin, dass die ROK - aus einem liberalitäts- und individualisierungskritischen Impuls heraus - in geradezu diametraler Umkehrung den Staat bzw. die Nation als Schutzobjekt der Menschenrechte betrachtet und die Menschenrechte danach beurteilt, ob sie dem (National‑)Staat im Sinne einer moralischen Gemeinschaft nützen. Der Reichweitenfehler von ROC und ISO beruht auf einer Vermischung der kategorial zu unterscheidenden Funktionen von Recht und Moral. Menschenrechte bieten kein religiöses Erlösungsprogramm. Deshalb lassen sich die Schutz- und Gewährleistungsfunktionen der Menschenrechte nicht an transzendenten, religiösen oder theologischen Zielen messen. Eine solche theologisch-moralische Überhöhung der Menschenrechte führt in der Konsequenz zu ihrer politischen Diskreditierung. Menschenrechte sind keine Ersatzmoral oder Heilslehre, sie können und wollen weder individuelle und gemeinschaftliche Überzeugungen oder Moralvorstellungen ersetzen, noch religiöse Botschaften vermitteln. Sie formulieren aber die staatlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, damit beides Menschen möglich wird.
Gottes Ordnungen und menschliche Verantwortung
Vor dem Hintergrund dieser Grundunterscheidungen rückt die kirchliche Menschenrechtskontroverse in ein anderes Licht. Die Konfliktlinien verlaufen dann nicht nur an anderer Stelle, sondern auch auf einer anderen normativen Ebene. Werden die Menschenrechte von dem Übergewicht moralischer oder religiöser Erwartungen entlastet, lautet die Frage nicht mehr: Befördert oder hindert das Autonomieprinzip der Menschenrechte das christliche Leben, sondern: Was heisst christliches Leben im Kontext menschenrechtlicher Forderungen? Aus ethischer Sicht geht es an dieser Stelle um eine komplementäre positive Bestimmung der menschenrechtlich geschützten negativen Freiheit der Person vor den Übergriffen Dritter: Freiheit wozu? Entsprechend formuliert der ISO-Text: «Während der Staat eher die hinderlichen oder gar zerstörerischen Kräfte einschränkt, fördert die Kirche die Entfaltung des Lebens in der Gnade. Beide dienen jedoch dem gemeinsamen Ziel gelingenden Lebens des einzelnen wie der Gemeinschaft.» (498). Die reformatorischen Kirchen würden diesen Sätzen zustimmen, vielleicht mit der präzisierenden Anmerkung: Beide dienen dem gemeinsamen Ziel, aber nicht in gleicher Weise.
Staatliche Ordnungen entsprechen dem Willen Gottes in einer noch nicht erlösten Welt (Röm 13). Menschenrechte und staatliche Ordnungen stimmen in ihrem konditionalen Charakter für ein gelingendes menschliches Leben überein. Sie sind gottgewollte und menschengemachte Bedingungen der Möglichkeit für ein verantwortliches Leben in Freiheit. Aus reformatorischer Perspektive rücken staatliche Ordnungen als Ausdruck des bewahrenden Schöpfungshandelns Gottes konstitutiv in eine christologisch-eschatologischen Perspektivität: Die Schöpfungsordnungen sind - post lapsum - kein Selbstzweck. In ihrer Erhaltungsfunktion verweisen irdische Ordnungen und Institutionen auf ihre Endlichkeit und damit über sich selbst hinaus. In diesem Sinne kritisiert Dietrich Bonhoeffer ein falsches (lutherisches) Verständnis der göttlichen «Schöpfungsordnungen»: «Man braucht ein Daseiendes nur als Gottgewolltes, Gottgeschaffenes auszugeben, und jedes Daseiende ist für Ewigkeit gerecht, die Zerrissenheit der Menschheit in Völker, nationaler Kampf, der Krieg, die Klassengegensätze, die Ausbeutung der Schwachen durch die Starken, die wirtschaftliche Konkurrenz auf Tod und Leben. Nichts einfacher, als dies alles - weil daseiend - auch als gottgewollt auszugeben und zu sanktionieren.»[5] Bekanntlich vermeidet Bonhoeffer - auch unter dem Eindruck einer totalitären ‹politischen Theologie› seiner Zeit - den Begriff «Schöpfungsordnungen». Seine theologische Begründung lautet: «Alle Ordnungen unserer gefallenen Welt sind Erhaltungsordnungen Gottes auf Christus hin, nicht Schöpfungs- sondern Erhaltungsordnungen, nicht in sich wertig, sondern ausgerichtet und sinnvoll allein durch Christus.»[6]
Wider eine ‹Verchristlichung› des Staates
Was folgt aus dem christlichen Wissen um die Vorläufigkeit und Gebrochenheit der Welt für das Engagement der Kirchen im säkularen Rechtsstaat? Zunächst eine negative Antwort des Zweiten Vatikanischen Konzils: Die Kirche «setzt ihre Hoffnung nicht auf Privilegien, die ihr von der staatlichen Autorität angeboten werden. Sie wird sogar auf die Ausübung von legitim erworbenen Rechten verzichten, wenn feststeht, dass durch deren Inanspruchnahme die Lauterkeit des Zeugnisses in Frage gestellt ist, oder wenn veränderte Lebensverhältnisse eine andere Richtung fordern.» (Pastoralkonstiution Gaudium et spes, Nr. 76). Positiv gewendet formuliert das Zweite Vatikanische Konzil in seiner Erklärung zur Religionsfreiheit: «Der Schutz und die Förderung der unverletzlichen Menschenrechte gehört wesenhaft zu den Pflichten einer jeden staatlichen Gewalt. Die Staatsgewalt muss also durch gerechte Gesetze und durch andere geeignete Mittel den Schutz der religiösen Freiheit aller Bürger wirksam und tatkräftig übernehmen und für die Förderung des religiösen Lebens günstige Bedingungen schaffen, damit die Bürger auch wirklich in der Lage sind, ihre religiösen Rechte auszuüben und die religiösen Pflichten zu erfüllen, und damit der Gesellschaft selber die Werte der Gerechtigkeit und des Friedens zugute kommen, die aus der Treue der Menschen gegenüber Gott und seinem heiligen Willen hervorgehen.» (Erklärung Dignitatis humanae, Nr. 6).
Auch der Konzilstext versteht staatliches und überstaatliches Recht konditional - bedingend, nicht bedingt - für das religiöse Leben der Bürgerinnen und Bürger im Staat. Das Recht soll die Menschen dazu befähigen, nicht nur gemäss ihren religiösen Überzeugungen zu leben, sondern diese Haltungen und Lebensvollzüge auch fruchtbar in die Gesellschaft einzubringen. Der Staat legt nicht moralische Pflichten fest, die die Bevölkerung - um ihret- oder des Staates willen - zu erfüllen hätten. Er profitiert von einer Zivilgesellschaft, in der unter seinem Schutz unterschiedliche religiöse Überzeugungen und Lebensweisen nebeneinander und zusammen bestehen können.
Kirche und Staat tragen wechselseitig Verantwortung füreinander, aber nur in dem, beiden gleichermassen zugänglichen, politischen Bereich. «Die Kirche muss Kirche bleiben»[7] und der Staat - um des Staates willen - Staat. Karl Barth hat diese Unterscheidung verblüffend einfach und überzeugend begründet: «Es gibt, aus Gottes im Glauben vernommenen Wort geboren, nur einen Leib Christi. Es gibt also keinen der christlichen Kirche entsprechenden christlichen Staat, kein Duplikat der Kirche im politischen Raum. [...] Das politische Wesen kann weder eine Wiederholung der Kirche noch eine Vorwegnahme des Reiches Gottes darstellen.»[8] Die Aufgabe des Staates besteht einerseits in dem Verzicht auf jegliche religiöse Forderung und andererseits in dem Schutz der Glaubens-, Gewissens- und Kultusfreiheit seiner Bürgerinnen und Bürger. Die Kirchen und Religionsgemeinschaften beteiligen sich auf dieser Grundlage an der Gestaltung von Staat und Gesellschaft. Es gibt - wie Karl Barth in Erinnerung an die Barmer Theologischen Erklärung von 1934 formuliert - «keine christliche Indifferenz gegenüber den verschiedenen politischen Gestalten und Wirklichkeiten. Die Kirche ‹erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten› (Barmer These 5).»[9]
Neutestamentlicher Adressatenwechsel als Ausgangspunkt für ein ökumenisches Menschenrechtsverständnis
Dietrich Bonhoeffer hat auch unter widrigsten politischen Umständen den kirchlichen Auftrag im und gegenüber dem Staat nüchtern und wegweisend formuliert: Kirche soll «den Staat immer wieder danach fragen, ob sein Handeln von ihm als legitim staatliches Handeln verantwortet werden könne, d.h. als Handeln, in dem Recht und Ordnung, nicht Rechtlosigkeit und Unordnung geschaffen werden.»[10] Komplementär muss sich Kirche immer wieder selbst fragen, ob ihr Handeln dem Auftrag und Ziel der von Gott gestifteten Kirche in der Welt entspricht. Reformatorische Theologie plädiert für eine doppelte Bescheidenheit, sowohl die des Staates, wie die der gesellschaftlichen Institution Kirche. Dass der freiheitliche säkulare Staat - gemäss dem bekannten und im ISO-Text zitierten Böckenförde-Theorem - von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, hat Barth bereits 1946 aus christlicher Sicht in der Verhältnisbestimmung von der «Gleichnisfähigkeit» der Kirche und der «Gleichnisbedürftigkeit des politischen Wesens»[11] vorweggenommen. Aber aus der Tatsache, dass sich der säkulare Rechtsstaat nicht auf eine normative Selbstgenügsamkeit zurückziehen kann, folgt nicht, dass er der normativen Komplettierung durch die Kirche oder einer christlichen Moral bedürfe. Das ist keine Kritik am öffentlichen Eintreten für bestimmte moralische Überzeugungen und ethische Prinzipien, aber an einem falschen Ort bzw. falschen Ansprüche, die damit verbunden werden. Menschenrechte treten nicht an die Stelle öffentlich ausgehandelter Orientierungsmassstäbe von Gesellschaft. Aber ebenso wenig können die moralischen Überzeugungen der Bürgerinnen und Bürger umgekehrt die Menschenrechte ersetzen. Die Argumentation der ROK-Menschenrechtserklärung übergeht diese Unterscheidung genauso, wie der ISO-Text. Beide unterlaufen die Ebenendifferenz zwischen der Begründungspluralität von Menschenrechten und der Universalität ihrer Geltung.
Dieses Differenzierungsdefizit hat auch ein theologisches Pendant. Der ISO-Einwand, dass die rechtfertigungstheologisch zugespitzte Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen in der GEKE-Antwort entweder in einen Exklusivismus oder moralischen Anarchismus münde, ruht auf der undeutlichen oder fehlenden Unterscheidung zwischen geschöpflicher Würde, christologisch-rechtfertigungstheologischer Bestimmung des Menschen und ethischer Lebensführung. Gottebenbildlichkeit und das allein rechtfertigende österliche Erlösungshandeln Gottes sind nicht in moralischen Kategorien zu fassen. Deshalb können Staat und Politik auch nichts zur Würde des Menschen als Geschöpfe Gottes und zu seiner Erlösungsbedürftigkeit beitragen. Und deshalb kann auch der ISO-Vorwurf des evangelischen Defizits in der politischen Ethik nicht greifen, weil er auf einer unzulässigen Vermischung von «Christengemeinde» und «Bürgergemeinde» gründet.
Gleichzeitig darf - wie ROK und ISO zu Recht einwenden - Menschenwürde nicht eindimensional auf ein simples Souveränitätsprinzip reduziert werden. Gottebenbildlichkeit formuliert immer auch einen Anspruch: «Wie übst Du in dieser Situation deine Ebenbildlichkeit aus, wie zeigst Du Dich als Nachfolger, als Nachahmer des wahren Ebenbildes Jesu Christi? [...] Das berühmte Gleichnis vom barmherzigen Samariter hat genau diese Wendung von der Verobjektivierung des Mitmenschen verändert, indem Jesus auf die Frage ‹Wer ist mein Nächster?› nicht antwortet: ‹Der, der unter die Räuber fiel, der ist dein Nächster›, sondern: ‹Wem bist du Nächster gewesen?› Schöpfungsaspekt und Versöhnungsaspekt gehören hier schon immer zusammen.»[12]
Dieser Adressatenwechsel enthält so etwas wie ein menschenrechtliches Kernprogramm: 1. Die Wahrnehmung der anderen Person als eines würdigen Nächsten; 2. die Umkehrung nach aussen gerichteter moralischer Forderungen als kritische Selbstanfrage; 3. die (herrschaftskritische) Subjektwerdung des Gegenübers im Sinne des Menschenrechtsverständnisses von Hannah Arendt als «ein Recht, Rechte zu haben», das heisst «in einem Beziehungssystem zu leben, wo man nach seinen Handlungen und Meinungen beurteilt wird» oder «ein Recht, einer politisch organisierten Gemeinschaft zuzugehören»[13]. Die Menschenrechte sind keine biblische Erfindung und sollten deshalb nicht nachträglich dazu gemacht werden. Sie sind aber auch das Resultat der Analogiefähigkeit christlicher Verkündigung und kirchlichen Engagements sowie Ausdruck der Analogiebedürftigkeit menschlicher Gerechtigkeit. An den «Zumutungen aus dem Evangelium» (Eberhard Jüngel) sollen die christlichen Kirchen den Staat nicht vorbeikommen lassen. Kirchen können diese Aufgabe aber nur dann und solange leisten, wie sie angesichts mancher «Konformität» von weltlichem und göttlichem Recht jeder Versuchung oder jedem Druck zu ihrer Identifikation widerstehen. Das wäre zugleich ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem gemeinsamen ökumenischen Verständnis der Menschenrechte.
Dr. Frank Mathwig
Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund
frank.mathwig@sek.ch
[1] Vgl. GEKE: Menschenrechte und christliche Moral, Wien 2009, 2 (http://www.leuenberg.eu/daten/File/Upload/doc-9805-2.pdf)
[2] Barbara Hallensleben, Nikolaus Wyrwoll, Guido Vergauwen: Zur Amibivalenz der Menschenrechte. Missverständnisse der ‹Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa›, in: SKZ 29-30/2009, 16. Juli, 177. Jg., 501.
[3] Rudolf Uertz / Lars Peter Schmidt (Hg.): Die Grundlagen der Lehre von der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde die Freiheit und die Menschenrechte. Veröffentlicht in deutscher Sprache durch das Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Moskau. o. O. 2008, 9.
[4] Walter Kälin: Menschenrechte in der kulturellen Vielfalt, in: Stefan Batzli, Fridolin Kissling, Rudolf Zihlmann (Hg.): Menschenbilder, Menschenrechte. Islam und Okzident. Kulturen im Konflikt. Zürich 1994, 17-22, hier 20.
[5] Dietrich Bonhoeffer: Ökumene, Universität, Pfarramt 1931-1932. DBW 11. Gütersloh 1994, 336.
[6] Dietrich Bonhoeffer: Schöpfung und Fall. DBW 3. München 1989, 129f.
[7] Karl Barth: Christengemeinde und Bürgergemeinde, in: Ders.: Rechtfertigung und Recht. Christengemeinde und Bürgergemeinde. Zürich 41989, 56.
[10] Dietrich Bonhoeffer: Die Kirche vor der Judenfrage (1933), in: Ders.: Berlin 1932-1933. DBW 12. Gütersloh 1997, 351.
[12] Georg Plasger: Vom theologischen Wert der Werte. Überlegungen zu einem unverkrampften und unapologetischen Umgang mit Grundwerten, in: Michael Beintker, Sándor Fazakas (Hg.): Öffentliche Relevanz der reformierten Theologie. Studia Theologica Debrecinensis. Sonderheft 2008, 88.
[13] Hannah Arendt: Es gibt nur ein einziges Menschenrecht (1949), in: Otfried Höffe, Gerd Kadelbach, Gerhard Plumpe (Hg.): Praktische Philosophie/Ethik. Reader. Bd. 2. Frankfurt/M. 1981, 158.