Am 11. Juni 2009 hat die Gemeinschaft der Evangelischen Kirchen in Europa (GEKE) - die Leuenberger Kirchengemeinschaft, ihre Antwort auf das Dokument „Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über Würde, Freiheit und Rechte des Menschen" unterbreitet, das im Sommer 2008 vom Bischofskonzil der Russischen Orthodoxen Kirche verfasst wurde. Diese Antwort trägt den Namen „Menschenrechte und christliche Moral". In der zur Veröffentlichung der Antwort erschienenen Pressemitteilung gab es eine ziemlich vehemente Reaktion auf das orthodoxe Dokument. „Die GEKE sieht in der Position der ROK ein Missverständnis der Menschenrechte und lädt diese ein, den Dialog zur Umsetzung der Menschenrechte fortzusetzen"[1]. Dies veranlasst die Vertretung der Moskauer Patriarchats beim Europarat in Straßburg, für die das Thema der Menschenrechte und ihres christlichen Verständnisses ein Hauptanliegen ist, zu einer aufmerksamen Studie der im GEKE-Dokument enthaltenen Stellungnahme und Kritik.
Zurzeit verbindet die GEKE auf Grundlage der Leuenberger Konkordie von 1973, 105 protestantische Kirchen Europas (einschließlich fünf Kirchen in Südamerika, die aus Europa stammen) - darunter lutherische, reformierte, unierte und methodistische Kirchen sowie auch die vorreformatorischen Gemeinden der Hussiten und der Böhmischen Brüder. Das Sekretariat der GEKE befindet sich in Wien.
Das achtseitige GEKE-Dokument namens „Menschenrechte und christliche Moral" war in Mai 2009 verfasst worden[2]. In der Präambel dieses Dokuments (im Weiteren kurz „Antwort" genannt) steht unter anderem geschrieben[3]:
„In ihrer Stellungnahme lädt die russisch-orthodoxe Kirche andere christliche Kirchen ein, ihre Lehre zu studieren und zu diskutieren. Die GEKE dankt der russisch-orthodoxen Kirche für diese Einladung zum ökumenischen Dialog. Wir sehen darin ein Zeichen des gegenseitigen Vertrauens, das durch die enge Zusammenarbeit der Kirchen in Europa in den vergangenen Jahrzehnten gewachsen ist. Wir übermitteln der russisch-orthodoxen Kirche diese Stellungnahme als Antwort auf ihr Dokument vom Juni 2008 und verbinden damit die Einladung zur Fortführung des gemeinsamen Dialogs über die Bedeutung der Menschenrechte".
Als solche ist die engagierte Analyse eines konziliar verabschiedeten Dokuments der Russischen Orthodoxen Kirche seitens der Gemeinschaft der Evangelischen Kirchen in Europa ein gutes Zeichnen. Sie spricht für die Bereitschaft, die ökumenische Diskussion über die drängenden Probleme der christlichen Präsenz in der modernen Welt fortzusetzen. Die Wichtigkeit einer solchen Diskussion steht außer Zweifel; denn heute, während die Rolle der Religion in der Gesellschaft unablässig wächst, soll die Stimme der Kirchen zu gesellschaftlich bedeutenden Fragen sowohl lauter als auch deutlicher erklingen. Dies ist nur erreichbar, wenn alle interessierten Parteien gemeinsam an einem Strang ziehen.
Wie aus dem GEKE-Dokument selbst folgt, ist es in Fortsetzung der bereits geführten Diskussion verfasst worden - u.A. des Treffens der Vertreter der Russischen Orthodoxen Kirche und der Kommission für Kirche und Gesellschaft der Konferenz Europäischer Kirchen, das im März 2007 in Moskau auf Initiative der Russischen Kirche stattfand und der christlichen Interpretation der Menschenrechte im Vorfeld der Verabschiedung der entsprechenden ROK-Dokumente gewidmet war.
Das GEKE-Dokument stellt eine grundsätzlich wohlwollende Reaktion auf das Dokument der Russischen Orthodoxen Kirche „Grundlagen der Lehre über Würde, Freiheit und Rechte des Menschen" (im Weiteren „WFRM") dar, die aber auch mehrere konkrete Punkte kritisiert. In dieser Reaktion zeigen sich sowohl die Besonderheiten der protestantischen Glaubenslehre und Theologie als auch das Verständnis der Menschenrechtsproblematik, das sich in den Kirchen Europas heutzutage gebildet hat.
In dem hier vorgelegten Versuch der Analyse der „Antwort" werden jene Gesichtspunkte betont, die ein ungenügendes Verständnis der Position unserer Kirche oder Unstimmigkeiten in den Positionen - oder aber auch deren unbestreitbare Nähe - aufzeigen.
Dabei werden wir uns nicht nur auf das WFRM-Dokument stützen, sondern auch auf das frühere und umfassendere Dokument „Die Grundlagen der Sozialdoktrin der Russischen Orthodoxen Kirche"[4] (2008), da das Sonderdokument zu Würde, Freiheit und Rechten der Menschen eigens zur Entwicklung der orthodoxen Soziallehre erstellt worden ist und nicht isoliert betrachtet werden darf.
Die „Antwort" auf die „Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über Würde, Freiheit und Rechte des Menschen" besteht aus einer kurzen Präambel, fünf Abschnitten und dem Fazit. Jeder Abschnitt stellt zunächst die Position der ROK kurz dar, worauf kritische Kommentare folgen, die die Position der Verfasser widerspiegeln. Werfen wir nun einen näheren Blick darauf.
Abschnitt 1. Zur theologischen Grundlegung: Die unveräußerliche Würde des Menschen
Ganz am Anfang dieses ersten Abschnitts begegnen wir einer unkorrekten Interpretation der Position der Russischen Kirche. Hier heißt es, das WFRM-Dokument unterscheide
„zwischen einem ‚ultimativen Wert' des Menschen aufgrund seiner Gottebenbildlichkeit und einer erst noch zu erringenden ‚ Würde' des Menschen, die auf einer Gottähnlichkeit beruht, die darin besteht, durch Gottes Gnade die Sünde zu überwinden und moralische Reinheit und Tugend zu erreichen."
Betrachten wir erst einmal die WFRM-Logik.
Die unveräußerliche Würde des Menschen (bzw. der menschlichen Natur) wird im Dokument der Russischen Kirche auf das Ebenbild Gottes zurückgeführt: der erschaffene Mensch ist das Ebenbild des erschaffenden Gottes. Hier geht es gerade um die „ontologische Würde jeder menschlichen Person und ihren höchsten Wert" (I.2)[5], und hier stehen „Würde" und „Wert" nicht einander entgegen (so wie in der „Antwort" unterstellt), sondern gleich gesetzt.
In diesem Punkt ist die Übereinstimmung der Positionen sichtbar - denn, wie es in der Antwort geschrieben steht: „auch aus evangelischer Sicht ist die Gottesebenbildlichkeit des Menschen der zentrale Punkt für die Begründung seiner einzigartigen Würde".
Allerdings sollte- entgegen der Behauptung der „Antwort" (die „christologische Fundierung fehlt in der Stellungnahme der russisch-orthodoxen Kirche") - darauf hingewiesen werden, dass die Vorstellung, dass das Ebenbild Gottes im Menschen unauslöschbar ist, in der WFRM eben doch christologisch begründet wird:
„Die Fleischwerdung des göttlichen Wortes hat bezeugt, daß die menschliche Natur auch nach dem Sündenfall ihre Würde nicht einbüßte (...) Die Annahme der Fülle der menschlichen Natur außer der Sünde durch den Herrn Jesus Christus (Hebr 4,15) zeigt, daß die Würde durch die Entstellungen, die in dieser Natur infolge des Sündenfalls entstanden sind, nicht in Mitleidenschaft gezogen ist" (I.1).
(Es mag beiläufig angemerkt werden, dass hier Übereinstimmung mit der in der „Antwort" geäußerten Position herrscht: „die (...) Menschenwürde kann (...) durch die Sündhaftigkeit des Menschen nicht grundsätzlich infrage gestellt werden".)
Dementsprechend ungerecht ist die Behauptung, dass „die russisch-orthodoxe Kirche Menschenwürde nur als moralischen Maßstab entfaltet". Zitieren wir dazu folgende Passage der WFRM, die den ontologischen Aspekt der Würde entfaltet: „ein sittlich unwürdiges Leben zerstört die von Gott verliehene Würde auf der ontologischen Ebene nicht", sie „verdunkelt" sie nur (I.4).
Der moralische Maßstab entsteht dann, wenn es sich um das Verhältnis des Menschen selbst zu der Würde handelt, über die er als Ebenbild Gottes immer und unbedingt verfügt. Das heißt, das WFRM-Dokument unterscheidet zwischen Würde im eigentlichen Sinne einerseits und dem „[dieser] Würde entsprechenden Leben" eines Menschen andererseits. Es betont auch, dass das Leben (moralisch gesehen) in der orthodoxen Tradition entsprechend der Würde (ontologisch gesehen) durch die Kategorie „Gottähnlichkeit" bestimmt und beschrieben wird (I.2). Hier sei auf Kirchenväter wie den Heiligen Gregor von Nyssa und den Ehrwürdigen Johannes von Damaskus verwiesen.
Wir weisen darauf hin, dass die Positionen der ROK und der GEKE in einem wesentlichen Punkt übereinstimmen:
WFRM: „(...) darf der Mensch, der das Ebenbild Gottes in sich trägt, sich dieser hohen Würde nicht rühmen, denn sie ist nicht sein persönliches Verdienst, sondern Gabe Gottes"(I.2.).
„Antwort": „(...) wird die Würde des Menschen nicht durch eigene Leistungen bestimmt, sondern allein durch Gottes Gnade, also eine Voraussetzung, die seiner Verfügung schlechterdings entzogen ist".
Zugleich gibt es hier deutliche Unterschiede in der Glaubenslehre. So lesen wir in der „Antwort" direkt nach dem oben zitierten Satz:
„Dies spiegelt sich in der neutestamentlichen Rechtfertigungslehre wider: Paulus schreibt: ‚So halten wir denn dafür, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werk, allein durch den Glauben!' (Röm 3,28) Die in Gottes Gerechtigkeit begründete Menschenwürde kann demnach durch die Sündhaftigkeit des Menschen nicht grundsätzlich infrage gestellt werden. Zu der schöpfungstheologischen Begründung tritt also nach christlicher Überzeugung eine soteriologische Ausrichtung der Menschenwürde".
In diesem Falle bezieht sich das GEKE-Dokument auf die protestantische Lehre über die Rechtfertigkeit nur durch den Glauben und nicht durch Werke. Des Weiteren wird aus dieser Lehre eine charakteristische Vorstellung hergeleitet, dass die Menschenwürde „in Gottes Gerechtigkeit begründet ist". Hier ist es markant, dass die „Antwort", indem sie das protestantische soteriologische Argument anführt, zugleich auch das moralische Element einführt, nämlich den Begriff der Gerechtigkeit. Und diese zwei Argumente - das Ebenbild Gottes und die Gerechtigkeit Gottes - gelten für die protestantische Vorgehensweise als Fundierung der Unerschütterlichkeit der Menschenrechte.
Die orthodoxe Lehre ist aber eine andere. Sie teilt weder die Vorstellungen über die Rettung nur durch den Glauben noch die, dass nur Gott über Gerechtigkeit verfüge. Die orthodoxe Theologie geht von der konzeptuellen Unterscheidung des „Ebenbildes" und der „Ähnlichkeit" aus und akzentuiert die Notwendigkeit der spirituellen Arbeit des Menschen an sich selbst, einer aktiven Abkehr von der Sünde (auch durch die Buße) und den Erwerb sittlicher Reinheit und der Tugenden. Mit anderen Worten: vom Menschen wird nicht nur Glaube, sondern werden auch Werke verlangt - wenn auch mit Beistand der Gnade Gottes (I.2). Ein Christ ist berufen zu „einem guten Leben, das der gottgegebenen menschlichen Natur würdig ist", nach dem Vorbild, das der Herr Jesus Christus der Welt kundgetan hat; er ist also, nach den im WFRM-Dokument zitierten Worten des Ehrw. Johannes von Damaskus, berufen zur „Verähnlichung mit Gott im Tun des Guten, soweit es dem Menschen möglich ist".
Das heißt, die Behauptung der „Antwort", es fehle dem WFRM-Dokument an einem essentiellen theologischen Element, ist unzutreffend. Allerdings bezeichnet die WFRM theologisch eben die Würde des Menschen und nicht die „Menschenrechte" als an und für sich begründet. Letzteren sind andere Abschnitte des Dokuments gewidmet.
Als inkorrekt sollte auch die folgende Behauptung der „Antwort" angesehen werden:
„...die russisch-orthodoxe Kirche (...) kann (...) die Würde nicht als Begründung eines unbedingten Schutzes gegen menschliche Übergriffe verstehen. Menschliche Würde steht hier nicht für ein Tabu, das sich kategorisch gegen jede Verdinglichung und Instrumentalisierung von Menschen stemmt (...)". Zur Widerlegung können folgende Worte aus dem zweiten Abschnitt der WFRM angeführt werden: „Die Unterordnung des menschlichen Willens unter irgendeine äußere Autorität mit Hilfe von Manipulation oder Gewalt gilt als Verstoß gegen die von Gott errichtete Ordnung" (II.1).
Die Unantastbarkeit der Person und der Schutz ihrer unveräußerlichen Würde sind in der orthodoxen Lehre nicht mit einem Appell an die Menschenrechte verbunden, sondern, eigentlich, mit dem christlichen Verständnis der Gottebenbildlichkeit des Menschen und seiner Wesensgleichheit mit der Menschlichkeit Christi.
Abschnitt 2. Menschenrechte und Moral
In diesem Abschnitt ist die GEKE-Position gekennzeichnet wie folgt.
„In den evangelischen Kirchen spielt die Frage der Heiligung des christlichen Lebens eine große Rolle. Die Kirchen der Reformation haben seit jeher großes Gewicht auf die rechte Lebensführung der Christen gelegt. Ziel protestantischer Erziehung ist, die Menschen in die Lage zu versetzen, ein verantwortungsbewusstes Leben gegenüber Gott und dem Nächsten zu führen. Wir sehen dies als wichtigen Beitrag der Kirchen zur Stärkung der moralischen und sittlichen Werte in der Gesellschaft.
Heiligung und Moral der menschlichen Lebensführung sind jedoch von der Aufgabenbestimmung der Menschenrechte zu unterscheiden. Die Stellungnahme der russisch-orthodoxen Kirche verzichtet leider auf solch eine rechtsethische Klärung der Menschenrechte. Dadurch fehlt eine klare Differenz zwischen Menschenrechten einerseits und Moralvorstellungen und religiösen Überzeugungen andererseits.
Die Menschenrechte sind Schutz- und Partizipationsrechte, die den Handlungs- und Lebensraum der Menschen unter das Recht stellen und Rahmenbedingungen für das Zusammenleben der Menschen gewährleisten."
Die hier zitierte Bewertung der Position unserer Kirche ist kaum gerecht.
Besinnen wir uns auf die allgemeine Position unserer Kirche in Bezug auf die Menschenrechte, wie sie in den Grundlagen der Sozialdoktrin niedergelegt ist (s. Abschnitt IV. Christliche Ethik und weltliches Recht, im Weiteren „GSD"):
„Das Recht ist dazu bestimmt, eine Erscheinungsform des göttlichen Schöpfungsgesetzes im sozialen und im politischen Bereich zu sein. Zugleich ist jedes durch die menschliche Gemeinschaft hervorgebrachte Rechtssystem - als Ergebnis einer historischen Entwicklung - durch eine gewisse Beschränktheit und Unvollkommenheit gekennzeichnet. Das Recht ist ein eigenständiger Bereich, der sich von dem ihm benachbarten Bereich der Ethik unterscheidet: es regelt nicht den inneren Zustand des menschlichen Herzens, da einzig Gott Herr unserer Herzen sein kann. Es sind jedoch das Verhalten und die Handlungen des Menschen, die Gegenstand der rechtlichen Reglementierung sind, der die Gesetzgebung zugrunde liegt...
Das Recht enthält ein Mindestmaß an für alle Mitglieder der Gesellschaft verbindlichen sittlichen Normen. Aufgabe des weltlichen Gesetzes ist es nicht. die unter der Macht des Bösen stehende Welt in das Reich Gottes zu verwandeln, sondern zu verhindern, daß sie zur Hölle wird" (IV.2).
So wie wir sehen können, besteht die Position unserer Kirche darin, die zwei Bereiche - den rechtlichen und den ethischen - sowohl voneinander zu unterscheiden als auch einander zuzuordnen. Sie kennzeichnet also „ein Verhältnis von Entsprechung und Differenz" (wie es in der „Antwort" an der Stelle geschrieben steht, wo von der Zuordnung von Gesetz und Evangelium die Rede ist: „zwischen der neuzeitlichen Gestalt der Menschenrechte und den Grundinhalten des christlichen Glaubens besteht nämlich ein Verhältnis von Entsprechung und Differenz").
Zugleich macht die ROK nicht nur einen horizontalen Unterschied zwischen Sittlichkeit und Recht, sondern erkennt auch, dass in diesem Falle ein hierarchisches Verhältnis vorliegt. In der WFRM steht geschrieben (was in der „Antwort" auch erwähnt wird), dass die Sittlichkeit, das heißt die Vorstellung von Sünde und Tugend, stets dem Gesetz vorausgeht, das gerade aus diesen Vorstellungen entstanden ist." (III.1).
Mit dieser doppelten Zuordnung - „horizontaler" und „vertikaler" - steht eine weitere Behauptung des WFRM-Textes völlig im Einklang. Ihr Sinn ist folgender: bei der rechtlichen Reglementierung des menschlichen Lebens und, entsprechend, bei „Menschenrechten" als einer ihrer Einzelerscheinungen, gehört die vorrangige Bedeutung nicht nur der Sittlichkeit als solcher, sondern vor allem dem, was sie vom christlichen Standpunkt bestimmt - nämlich dem menschlichen Glauben an Gott und der spirituellen Gemeinschaft mit IHM (was in der WFRM mit dem Ausdruck „Werte der geistigen Welt" bezeichnet wird). Daher ist die ROK prinzipiell nicht damit einverstanden, „die Menschenrechte als die wichtigste und universale Grundlage des gesellschaftlichen Lebens zu deuten, der sich die religiösen Ansichten und die religiöse Praxis unterzuordnen haben" (III.1).
Hier ist es wichtig, die theologische Logik des ROK-Dokumentes über Würde, Freiheit und Rechte des Menschen zu verstehen. Dieses Dokument setzt sich nicht die Aufgabe, eine „Rechtstheologie" oder eine „orthodoxe Rechtsphilosophie" zu erarbeiten (was als Entwicklung der orthodoxen Sozialdoktrin anscheinend noch bevorsteht). Der Standpunkt, von dem das Dokument das moderne weltliche Konzept von „Menschenrechten" behandelt, ist im eigentlichen Sinne noch nicht einmal sittlich, sondern soteriologisch. Um die Sittlichkeit geht es in sofern, als das Leben eines Christen, dessen Ziel das ewige Heil in der Einigkeit und der Gemeinschaft mit Gott ist, in sittlichen Kategorien beschrieben werden kann und muss (was in religiöser Sprache den Vorstellungen von Sünde und Tugend entspricht). Vom theologischen Standpunkt aus, ist die Lage eines Christen maximalistisch: das ist die Lage „zwischen" dem ihm bereits verliehenen und prinzipiell unveräußerlichen „Ebenbild Gottes" einerseits, und der spirituellen Aufgabe, die „Verähnlichung mit Gott, soweit es dem Menschen möglich ist", zu erreichen, andererseits.
Im Rahmen dieser religiösen christlichen Perspektive ist die Frage nach dem Verhältnis zum Recht nicht auf die Frage der einfachen Anerkennung des heutzutage existierenden weltlichen Rechts reduzierbar - auch nicht auf die Doktrin der „Menschenrechte" (wie sie in der Position der GEKE ersehen werden kann). Für eine religiöse Sichtweise ist es nicht möglich, von den weltanschaulichen Grundlagen dieses weltlichen Rechtes abzusehen.
So steht in den GSD über die Menschenrechte im Rechtsystem folgendes geschrieben:
„Im Zuge der Säkularisierung wandelten sich die erhabenen Prinzipien der unveräußerlichen Menschenrechte zum Begriff der Rechte des Individuums außerhalb seiner Beziehung zu Gott. Hierbei entwickelte sich die Freiheit der Person zur Verteidigung des Eigenwillens fort (solange anderen Individuen kein Nachteil davon entsteht) sowie zur Forderung an den Staat nach der Sicherstellung eines gewissen materiellen Existenzminimums zugunsten der Person und der Familie. Im System des gegenwärtigen weltlichen, humanistischen Menschenrechtsverständnisses wird der Mensch nicht als Ebenbild Gottes, sondern als sich selbst genügendes und autarkes Subjekt aufgefaßt. Außerhalb Gottes existiert jedoch nur der gefallene Mensch, der dem von allen Christen erstrebten Vollkommenheitsideal, das in Christus erschien („Ecce homo!"), weit entfernt ist." (IV.7).
Zugleich besagt die WFRM:
„Vom Standpunkt der orthodoxen Kirche kann die politisch-rechtliche Einrichtung der Menschenrechte den guten Zielen des Schutzes der menschlichen Würde dienen und zur geistig-sittlichen Entwicklung der Person beitragen. Dabei darf die Verwirklichung (Kursiv von uns - H.Ph.) der Menschenrechte nicht zu den von Gott gesetzten sittlichen Normen und zu dem darauf beruhenden traditionsbezogenen Ethos in Widerspruch treten." (III.5).
Im Rückblick auf das oben Gesagte ist folgende in der „Antwort" enthaltene Schlussfolgerung als inkorrekt anzusehen:
„Der Text [der WFRM] setzt dabei ein Konfrontationsverhältnis zwischen Menschenrechten und christlicher Moral voraus, das in der These gipfelt, die Einhaltung der Menschenrechte würde Christen dazu zwingen, „entgegen" (Präambel; Abs. I.4.) der göttlichen Gebote zu denken und zu handeln. Dieser Grunddissens zieht sich durch den gesamten Text".
Diese Interpretation ist vor allem darum inkorrekt, weil ein Konfrontationsverhältnis zwischen „Menschenrechten" (als Element des Rechtes generell) und „christlicher Moral" prinzipiell unmöglich ist, wenn die oben zitiere These, „das Recht ist ein eigenständiger Bereich, der sich von dem ihm benachbarten Bereich der Ethik unterscheidet", berücksichtig wird (GSD, IV.2).
Die zweite Interpretation, die in dem oben erwähnten Zitat aus der „Antwort enthalten ist, ist ebenfalls faktisch inkorrekt. In der WFRM-Präambel ist von „den gesellschaftlichen und staatlichen Organen" die Rede, von denen die Christen „unter Berufung auf den Schutz der Menschenrechte, dazu gedrängt, zuweilen geradezu gezwungen werden können, im Gegensatz zu den göttlichen Geboten zu denken und zu handeln.". Und an einer anderen Stelle (I.4) geht es schon gar nicht mehr um Menschenrechte, sondern es heißt: „ein Leben nach dem Gesetz des Fleisches ist den göttlichen Geboten entgegengesetzt und entspricht nicht dem sittlichen Prinzip, das Gott in die menschliche Natur gelegt hat".
Abschnitt 3. Freiheit und Verantwortung
In diesem Abschnitt ist die Kritik am WFRM-Dokument in folgenden Sätzen enthalten:
„Die russisch-orthodoxe Kirche macht für solche gesellschaftlichen Entwicklungen [‚Abtreibung, Selbstmord, Unzucht, Perversion, Zerstörung der Familie und ein Kult der Brutalität und Gewalt' - WFRM, II.2] die ‚Schwachheit der Institution der Menschenrechte (Abs. II,2) verantwortlich', die mit der Verteidigung der Freiheit dazu tendiert, die moralische Dimension des Lebens und die Befreiung von der Sünde zu ignorieren (‚sie tendiert immer mehr dazu, die moralische Dimension des Lebens und die Freiheit von der Sünde zu ignorieren' Abs. II.2.)".
„Für uns ist (...) nicht ersichtlich, warum ausgerechnet die Menschenrechte, die als ‚Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt' (Vgl. die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte) geschaffen wurden, verantwortlich für die Förderung von Grausamkeit und Gewalt sein sollen."[6] .
Hier sehen wir wiederum, dass die Autoren der „Antwort" die Besonderheit der WFRM prägenden Vorgehensweise entweder nicht verstehen oder ignorieren.
In diesem Dokument der ROK wird das theologische Konzept von zwei Freiheiten geschildert, die in ihrer Einheit und Unterschiedlichkeit gesehen werden. Diese sind: die Freiheit der Wahl (autexousia) und die Freiheit von dem Bösen bzw. die Freiheit im Guten (eleutheria). Das christliche Verständnis der Freiheit ist unmöglich ohne die Erkenntnis des inneren Widerspruchs bzw. des Dramas, die ein Christ im Zusammenhang mit der ihm verliehenen Freiheit erlebt. Dies wurde eben so klar und aphoristisch vom Apostel Paulus formuliert: (Röm 7,15.17: Ich tue nicht, was ich will, sondern was ich hasse, das tue ich ... Dann aber bin nicht mehr ich es, der so handelt, sondern die in mir wohnende Sünde - so aus der WFRM zitiert). Möglicherweise erkennen gerade Christen diese Dialektik der Freiheit in der Praxis besser als Andere, da wir die Tiefe und die Kraft „der im Menschen wohnenden Sünde" kennen, von deren Macht wir nur durch die Wirkung der Gnade Gottes befreit werden können. Zugleich wissen Christen auch, dass sie die Verantwortung für eigene Sünden auf niemand anderen und nichts anderes schieben können, da Sünde sich immer in einem konkreten Menschen, in einer vor Gott verantwortlichen Person, und nicht in unpersönlichen Strukturen ereignet.
Dementsprechend kann auch nicht die Rede davon sein, dass Christen und die Kirche irgendwelche „Institutionen", darunter auch Rechtssätze, für sündhafte Taten und Sündenerscheinungen im individuellen und gesellschaftlichen Leben verantwortlich machen.
Im WFRM-Dokument geht es um etwas anderes - nämlich darum, worüber in der Präambel geschrieben steht: „In der heutigen Welt ist die Überzeugung weit verbreitet, die Einrichtung der Menschenrechte könne aus sich heraus auf optimale Weise die Entwicklung der menschlichen Person und der Gesellschaftsordnung fördern". Es geht also darum, dass eine gesellschaftliche und rechtliche Behauptung der Grundrechte und -freiheiten des Menschen aus sich heraus nicht nur ein Gut (genauer gesagt, eine Bedingung zur Verwirklichung des Guten) sei, sondern viele Gefahren in sich trage (wenn sie Bedingung zur Begehung des Bösen wird).
Es ist völlig logisch, dass sich hier die sittliche Frage stellt, denn die Einrichtung der Menschenrechte ist prinzipiell auf die legitime Sicherstellung nur einer Freiheit, nämlich der Freiheit der Wahl (einer sog. negativen Freiheit) ausgerichtet. Außerdem ist es eben eine Einrichtung der Menschenrechte, d.h. eine, die zu einem Bereich gehört, der sich vom sittlichen Bereich positiver Freiheit, positiver Zielsetzung und Notwendigkeit unterscheidet. Wird aber dieser letztere Bereich für die Gesellschaft und die Person als nicht weniger wichtig angesehen als der Bereich der rechtlichen Reglementierung bzw. wird er nicht als ein anderer bedeutender Bereich angesehen, der, wenn es um das Gut des Menschen und der Gesellschaft geht, nicht weniger Aufmerksamkeit verdient, dann zeigt die „Einrichtung der Menschenrechte" unvermeidlich ihre Schwäche, ihre Einseitigkeit und Voreingenommenheit.
Nur davon ist in der WFRM die Rede: „Die gesellschaftliche Ordnung muß auf beide Freiheiten ausgerichtet sein und deren Verwirklichung im öffentlichen Bereich miteinander in Einklang bringen. Man darf nicht die eine Freiheit verteidigen und die andere vergessen" (II.2).
In der „Antwort" lesen wir auch:
„Die evangelischen Kirchen sehen die Menschenrechte deshalb nicht als Bedrohung der Moral, sondern als Fundamente für ein friedliches und respektvolles Zusammenleben in Freiheit in einer pluralistischen Gesellschaft. Solche für alle geltenden Regelungen zugunsten partikularer Interessen einzuschränken, widerspricht dem gemeinsamen Anliegen der Kirchen, die Verantwortung aller für die Gemeinschaft, die Liebe zum Nächsten und die Achtung vor Andersdenkenden und ihren Überzeugungen zu stärken".
Als Antwort darauf sollte aufgrund der von Gott offenbarten biblischen Lehre klar gesagt werden, dass unsere Kirche solche Erscheinungen, wie beispielsweise Abtreibung, Selbstmord oder homosexuelle Ehe nicht als „partikulare Interessen" betrachten kann. Sonst hätte sie ihr christliches Bekenntnis nicht nur verraten, sondern auch auf ihre Teilnahme am „gemeinsamen Anliegen der Kirchen, die Verantwortung aller für die Gemeinschaft (...) zu stärken", verzichtet.
Dabei akzeptieren wir, dass einige protestantische Kirchen bzw. ihre ökumenischen Verbände auch andere Ansichten darüber haben können.
Abschnitt 4. Menschenrechte und das Verhältnis zum Staat
In diesem Abschnitt nehmen die Autoren, ausgehend von ihrer Analyse der WFRM, an, dass in ihr die „Harmonie zwischen Staat und Kirche" postuliert werde, was die „Frage nach einer kritischen Gegenüberstellung der Kirche zur staatlichen Ordnung" aufwirft.
„"Die zugrunde gelegte Harmonie zwischen Staat und Kirche führt zu der Frage nach einer kritischen Gegenüberstellung der Kirche zur staatlichen Ordnung. Wo erscheint in diesem Zusammenhang das prophetische Amt der Kirche gegenüber der weltlichen Ordnung, das in Apg 5,29 angelegt ist und in der Theologie der Alten Kirche breit ausgeführt wird?"
Um zu demonstrieren, wie wenig die von den Autoren der „Antwort" vorgebrachte „Annahme" mit der wirklichen Position unserer Kirche übereinstimmt, wenden wir uns dem GSD-Dokument zu und nehmen - wegen der Wichtigkeit der Frage - folgendes ausführliches Zitat in Anspruch.
„In den Beziehungen zwischen Kirche und Staat muß ihre wesensmäßige Verschiedenheit beachtet werden. Die Kirche ist unmittelbar durch Gott Selbst - unseren Herrn Jesus Christus - gegründet, während die Errichtung der Staatsgewalt durch Gott im Laufe eines historischen Prozesses mittelbar erfolgt ist. Das Ziel der Kirche ist das ewige Heil der Menschen, das Ziel des Staates besteht in deren irdischem Wohlergehen.
(...) dürfen die Christen die Staatsgewalt jedoch nicht verabsolutieren und die Grenzen ihres rein irdischen, zeitlichen und vergänglichen Sinns ignorieren, der durch das Vorhandensein der Sünde in der Welt und die Notwendigkeit, ihr Einhalt zu gebieten, bedingt ist. (III.3).
Die Kirche verkündigt unfehlbar die Wahrheit Christi und lehrt die Menschen moralische Gebote, deren Quelle Gott Selbst ist und die es ihr nicht erlauben, Änderungen in ihrer Lehre vorzunehmen. Ebenfalls ist es ihr nicht erlaubt, die Wahrheit zu verschweigen und deren Verkündigung Abbruch zu tun, welche anderen Lehren auch immer von den staatlichen Institutionen vorgeschrieben und verbreitet werden mögen. In dieser Hinsicht genießt die Kirche volle Freiheit gegenüber dem Staat.
Die Kirche wahrt Loyalität gegenüber dem Staat, jedoch steht über dieser Loyalitätspflicht das Göttliche Gebot der unbedingten Erfüllung des Heilsauftrags unter allen Bedingungen und unter allen Umständen.
Wenn die staatliche Macht die orthodoxen Gläubigen zur Abkehr von Christus und Seiner Kirche sowie zu sündhaften, der Seele abträglichen Taten nötigt, so ist die Kirche gehalten, dem Staat den Gehorsam zu verweigern (III.5).
Der Staat, einschließlich des säkularen, ist sich in der Regel seiner Berufung bewußt, das Leben des Volkes auf den Grundsätzen des Guten und der Gerechtigkeit zu ordnen und für die materielle und geistige Wohlfahrt der Gesellschaft Sorge zu tragen. Aus diesem Grund kann die Kirche in Fragen, die das Wohl der Kirche selbst, ebenso wie das der Person und der Gesellschaft betreffen, mit dem Staat kooperieren. Aus Sicht der Kirche sollte eine solche Zusammenarbeit in ihrem Heilsauftrag enthalten sein, umfaßt doch dieser die allseitige Sorge für den Menschen. Die Kirche ist gefordert, sich an der Ordnung des menschlichen Lebens in allen Bereichen zu beteiligen, in denen das möglich ist, und ihre entsprechenden Bemühungen mit denen der Vertreter der Staatsgewalt in Einklang zu bringen» (III.8).
Wie wir sehen können, kann in Bezug auf die Position der Russischen Orthodoxen Kirche weder von einer unbedingten Harmonie zwischen Kirche und Staat noch vom Fehlen einer kritischen Haltung der Kirche zur staatlichen Ordnung die Rede sein. Im Gegenteil stimmt die Position der ROK offensichtlich mit jener der GEKE überein, die in der „Antwort" wie folgt lautet: „Ausgehend von Röm. 13 differenzieren die civitates-Lehre von Augustinus und die Zwei-Regimenten-Lehre Luthers zwischen den Aufgaben von Kirche und Staat und ermöglichen zugleich die positive Verhältnisbestimmung, die das moderne Rechts- und Staatsverständnis vorbereitet hat".
Ein anderes von den Autoren der „Antwort in diesem Abschnitt erörtertes Thema lautet „Kirche und der Patriotismus". Im Dokument der GEKE ist ein Zitat aus der WFRM angeführt: „(...) führt die orthodoxe Tradition den Patriotismus auf das Wort des Erlösers Christus selbst zurück: Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt (Joh 15,13)", das mit folgendem Kommentar einhergeht:
„Indem das auf alle Menschen ausgerichtete Jesuswort aus Joh 15,13[7] nur (Kursiv von uns - H.Ph.) - auf die nationale Ebene bezogen wird, geht der universale Anspruch der christlichen Botschaft, die alle nationalen, ethnischen und kulturellen Grenzen überwindet, verloren."
Die vorgeschlagene Interpretation erscheint arg gewollt. Die traditionelle Fundierung des christlichen Patriotismus durch einen Verweis auf die Worte Jesu Christi, die im Evangelium nach dem Heiligen Apostel Johannes des Theologen angeführt sind, bedeutet keineswegs, dass der Sinn dieser Worte auf die genannten Interpretation eingeschränkt werden kann. Im Gegenteil - die nächsten Verse („Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was irgend ich euch gebiete; Joh. 15;13[8]) zeigen deutlich, dass in diesem Falle das Vorbild der Kreuzestod des Heilands selbst ist, der für alle gestorben ist (2. Kor. 5,15).
Für die Russische Kirche als einen untrennbaren Teil der Ökumenischen Orthodoxen Kirche ist die Universalität der christlichen Botschaft, „die alle nationalen, ethnischen und kulturellen Grenzen überwindet", nicht nur vom Standpunkte der theoretischen Theologie axiomatisch. Denn sogar innerhalb ihrer kanonischen Grenzen leistet unsere Kirche Vertretern vieler ethnischer Gemeinschaften, Nationen und lokalen Kulturen geistliche Fürsorge und bleibt dabei jedem Menschen gegenüber offen, unabhängig von dessen ethnokulturellen Zugehörigkeit.
Weiter unten im Text der „Antwort" lesen wir: „Diese Argumentation läuft Gefahr, dass die Legitimität des modernen Verfassungsstaates grundsätzlich infrage gestellt und staatliches Recht der Religion untergeordnet wird. Dies widerspricht nach unserer Überzeugung dem Wesen der Kirche".
Im Rahmen unserer Stellungnahme auf diese Besorgnis der Autoren der GEKE-Antwort beziehen wir uns wieder auf die Position der ROK, so wie sie in den GSD geäußert ist:
„Die Form und die Methoden der [staatlichen] Herrschaft sind in vieler Hinsicht durch den geistigen und sittlichen Zustand der Gesellschaft bedingt. Davon ausgehend anerkennt die Kirche die Wahl der Menschen oder erhebt zumindest keinen Einspruch gegen diese.
Eine Änderung der Herrschaftsform zugunsten einer tieferen religiösen Verwurzelung würde ohne die Vergeistigung der Gesellschaft unweigerlich in Betrug und Heuchelei ausarten, darüber hinaus zur Schwächung dieser Form sowie ihrer Herabwürdigung in den Augen der Menschen führen. Dennoch sollte die Möglichkeit einer solchen geistigen Wiedergeburt der Gesellschaft, infolge derer die religiös höhere Form des Staatsaufbaus als natürlich erachtet wird, nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden.
Gleichzeitig soll die Kirche ihre Aufmerksamkeit nicht vornehmlich auf die äußerliche Organisation der Gesellschaft, sondern auf den Zustand der Herzen ihrer Mitglieder richten. Vor diesem Hintergrund erachtet die Kirche sich nicht als zuständig, Änderungen an der Herrschaftsform vorzunehmen; in gleicher Richtung ist das Bischöfliche Konzil der Russischen Orthodoxen Kirche von 1994 zu verstehen, das die gesunde kirchliche Position hervorhob, keinem bestimmten Staatsaufbau sowie keiner der bestehenden politischen Doktrinen Vorrang einzuräumen'". (III.7).
Abschnitt 5. Zu einzelnen Rechten
Dieser Abschnitt der Antwort ist dem vierten WFRM-Abschnitt („Würde und Freiheit im System der Menschenrechte") gewidmet. Nach einer Erwähnung, es handele sich dabei um „einen weiten Bereich des Schutzes der menschlichen Würde und der menschlichen Rechte, die in allen Kirchen selbstverständlich sind[9]", betrachten die Autoren der Antwort kurz vier Fragen: Todesstrafe; Glaubens- und Gewissensfreiheit; Meinungsfreiheit und Freiheit der Kunst; zivile und politische Rechte.
Zur ersten Frage lesen wir in der WFRM folgendes:
„Wenn man zugibt, daß die Todesstrafe zur Zeit des Alten Testaments gebilligt wurde, und es ‚weder im Neuen Testament noch in der Überlieferung und im historischen Erbe der Orthodoxen Kirche' Hinweise auf die Notwendigkeit ihrer Abschaffung gibt, muß man auch bedenken, daß „die Kirche oft die Pflicht der Fürsprache für zum Tode Verurteilte auf sich genommen und für sie um Erbarmen und Strafmilderung gebeten hat' (Grundlagen der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche, IX.3). Die Kirche verteidigt das menschliche Leben und ist daher unabhängig von der Haltung der Gesellschaft zur Todesstrafe dazu berufen, diese Pflicht der Fürsprache auszuüben" (IV.2).
Darauf reagiert die „Antwort" wie folgt: „Beim Lebensrecht erscheint uns das indirekte Akzeptieren der Todesstrafe (...) nicht konsequent".
Es sollte darauf aufmerksam gemacht werden, dass die WFRM in diesem Falle eben die in den GSD bereits vorgegebene Position ohne jegliche Weiterentwicklung wiedergibt. Zur Begründung dieser Position wird das Argument ad traditionem benutzt, und zwar in seiner negativen Form: in der Überlieferung gebe es keine Hinweise auf die Notwendigkeit der Abschaffung. Dieses Argument kann Vertretern eines anderen Standpunktes schwach vorkommen; aber hier ist es, unserer Meinung nach, notwendig, eine anderer Logik hinsichtlich dieser Frage zu berücksichtigen, und zwar, dass es zur Zeit betreffs dieser Frage auch innerhalb der Russischen Kirche selbst keinen Konsens gibt. Darum erscheint dieses Argument angebracht zu sein, da es in möglichst allgemeiner Form den gegenwärtigen Zustand des kirchlichen Bewusstseins zum Ausdruck bringt.[10]
Zur Glaubens- und Gewissensfreiheit: Nicht ganz korrekt scheint die Interpretation der „Antwort", in der die WFRM indirekt dafür kritisiert wird, dass „die Errungenschaften der Glaubens- und Gewissensfreiheit (...)„dadurch relativiert werden, dass aus der kirchlichen Aufforderung, Zeugnis von der Wahrheit abzulegen und falsche Lehren zurückzuweisen, eine rechtliche Einschränkung der Gewissens- und Meinungsfreiheit abgeleitet wird"
Zu dieser Frage bewahrt die Position der ROK ebenfalls Kontinuität mit den GSD (was im Text der WFRM erwähnt ist). Dabei ist der wichtigste Gesichtspunkt dieser Position die Behauptung der Notwendigkeit, „dem Menschen einen Autonomiebereich zu bewahren, in welchem sein Gewissen ‚autokratischer' Herrscher ist, da Heil oder Untergang, der Weg zu Christus hin oder von Christus weg letzten Endes von der freien Willensäußerung abhängt" (GSD, IV, 6).
Diesbezüglich steht in den GSD auch:
„Gott hütet die Freiheit des Menschen, ohne jemals dessen Willen zu bedrängen. Im Gegensatz dazu strebt der Satan danach, vom Willen des Menschen Besitz zu ergreifen und ihn zu versklaven. Wenn sich das Recht nach der göttlichen Wahrheit richtet, die uns durch unseren Gott Jesus Christus offenbart wurde, so steht es auch auf der Seite der menschlichen Freiheit[11]. „Wo der Geist des Herrn wirkt, da ist auch Freiheit" (2 Kor 3.17); deshalb werden hier auch die unveräußerlichen Rechte der Person geschützt" (ibid.).
Kontextuell betont die WFRM die Aufforderung der Kirche, Zeugnis von der Wahrheit abzulegen, in Verbindung mit dem drängenden Problem christlicher Präsenz und Wirkung unter konkreten kulturellen und historischen Bedingungen, wenn „manchmal die Gewissensfreiheit als Forderung nach religiöser Neutralität oder Indifferenz von Staat und Gesellschaft behandelt" wird; und „gewisse ideologische Interpretationen der Religionsfreiheit bestehen darauf, alle Glaubensbekenntnisse als relativ oder ‚gleichermaßen wahr' anzuerkennen" (IV.3).
Zugleich wird im Dokument deutlich zum Ausdruck gebracht, dass „die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz unabhängig von ihrer Haltung zur Religion gewährleistet sein" muss (ibid.).
Betreffs ziviler und politischer Rechte bringen die Autoren der Antwort auf die ROK-Dokument folgende Erwägungen zum Ausdruck:
„Angesichts der Einschränkung der zivilen und politischen Rechte in Russland, aber auch in vielen anderen Staaten, vermissen wir in dieser Stellungnahme Aussagen zum Schutz des Einzelnen vor staatlichen Übergriffen wie politische Verfolgung, politische Morde, Diskriminierung von Minderheiten, Aushöhlung demokratischer Verfahren und Strukturen, soziale Ungerechtigkeiten, staatliche Bespitzelung oder den ungesetzlichen Umgang mit kritischen Personen und Gruppen. Aus evangelischer Sicht haben die Kirchen gerade in diesen Fragen eine wichtige Aufgabe, gegen den Missbrauch staatlicher Macht einzutreten. Dies ist eine zentrale Lehre, die die Kirchen aus der Auseinandersetzung mit totalitären Regimen gewonnen haben".
Unserer Meinung nach ist diese Aussage der protestantischen Kommentatoren des Dokuments der Russischen Orthodoxen Kirche durchaus charakteristisch und äußert, besser als alles andere, den Unterschied der Vorgehensweise in Sachen Menschenrechte. So wie die protestantische Vorgehensweise im Falle Menschenwürde einen unmittelbaren Übergang von einer theologischen Auslegung zu einer praktisch vorbehaltlosen Unterstützung des säkularen Konzepts der Menschenrechte impliziert, halten die protestantischen Kirchen es auch hier für ihre direkte Aufgabe, sich bezüglich der konkreten Formen von „staatlichen Übergriffen" auf die Rechte der Einzelnen zu äußern. Das erwarten sie auch von ihren orthodoxen Gesprächspartnern.
Derartige Erwartungen sind zumindest aus zwei Gründen unstatthaft:
Erstens ist die orthodoxe Vorgehensweise vor allem und vorwiegend theologisch und spirituell-moralisch. Im Mittelpunkt der orthodoxen Besorgtheit steht die Verklärung des Menschen bis hin zu seiner Vergöttlichung. Am wichtigsten ist die menschliche Persönlichkeit; „der Zustand des Herzens", sowie auch, als Folge, die Gemeinschaft der Christen bzw. die Kirche Christi in ihrer Existenz auf Erden. Gerade diese Vorgehensweise ist in den bereits verabschiedeten Dokumenten; also in den „Grundlagen der Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche" und „Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über Würde, Freiheit und Rechte des Menschen" umgesetzt. Dies ist der Blick aus der Kirche, wenn weltliche Erscheinungen (politische, gesellschaftliche, rechtliche usw.) im Lichte der Glaubenslehre und vom Standpunkt des kirchlichen Bewusstseins sowie auch aus dem Blickwinkel ihrer Beziehung mit dem Leben der Kirche interpretiert werden.
Auch wenn es Vertretern anderer (darunter auch der in der „Antwort" von der GEKE geäußerten) Positionen paradox vorkommen mag, war die Erfahrung einer „Auseinandersetzung mit totalitären Regimen" eben das, was unsere Kirche im vergangenen Jahrhundert angeregt hat, die Arbeit an der Formulierung der orthodoxen sozialen Doktrin zu beginnen, deren heutiges Ergebnis die zwei genannten Konzildokumente sind. In diesen Dokumenten zeigt sich das orthodoxe Verständnis der Kirche in der modernen Welt und unter den konkreten sozial-kulturellen Bedingungen ihrer jetzigen Existenz, sowie auch - was wichtig zu erwähnen ist - das Selbstverständnis unserer Kirche, die frei von jeglichen äußeren, überaus säkularen, darunter auch den Staat bedienenden, Ideen und Konzepten ist. Nach den Jahrzehnten der Einschränkungen und direkten Verfolgung musste die Kirche vor allem ihre Verhältnisse mit der Außenwelt in den theologischen und religiös-sittlichen Kategorien, im Lichte der Heiligen Schrift und der Heiligen Überlieferung überdenken. Dies ist eine der Bestätigungen der Auferstehung der Kirche, die innerhalb eines Jahrhunderts buchstäblich um ihr Überleben zu ringen hatte, und das unter den Bedingungen mehrerer, bis zur Gegensätzlichkeit unterschiedlicher politischer Regime.
Zweitens sollte darauf aufmerksam gemacht werden, dass die beiden betrachteten ROK-Dokumente als „Grundlagen" bezeichnet wurden. Es sind generell die ersten Versuche der Orthodoxen, im Genre der christlichen „Soziallehre" (die, zur Erinnerung, 2000 und 2008 veröffentlicht wurden). Und es geht nicht darum, dass sie nicht perfekt sind. Es geht darum, dass viele wichtige Themen darin erst angedeutet sind oder nur einen ersten Schliff bekommen haben. Uns steht noch viel Arbeit bevor, deren Ergebnis nicht nur von den Bemühungen des theologischen Verstandes, sondern auch von der Sammlung der gegenwärtigen Erfahrung des kirchlichen Lebens in der Epoche „nach dem Totalitarismus" abhängt. Denn rein theoretische Konstrukte haben keine besondere Bedeutung, wenn sie nicht das Konzilbewusstsein der Kirche ausdrücken. Eine ausführlichere Erarbeitung der orthodoxen Soziallehre, die, unter anderem, auch konkrete politische Probleme analysiert und bewertet, braucht Zeit.
Was den Schluss des Dokuments der GEKE betrifft, möchten wir einen Ausschnitt zitieren, der uns ein Hinweis auf die Möglichkeit der Fortsetzung des ökumenischen Dialogs zum betrachteten Thema zu sein scheint; dort heißt es, dass „die konkrete Gestalt der Menschenrechte diskutiert und weiterentwickelt werden muss. Die Charta der Grundrechte der europäischen Union, die im Jahr 2000 beschlossen wurde, ist ein gutes Beispiel hierfür, greift sie doch Fragen der Informations- und Biotechnologien auf, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte noch nicht im Blick sein konnten".
Tatsächlich ist eine der aussichtsreichen Richtungen eines solchen Dialogs die Besprechung konkreter, darunter auch sich ganz neu stellender Themen, die mit der Problematik der Menschenrechte verbunden sind. Gerade bei den Fragen nach Informations- und Biotechnologien kann der Beitrag der christlichen Kirche gewichtiger sein, als es den säkularen Teilnehmern diesbezüglicher Diskussion manchmal vorkommen mag. Und dieser Beitrag kann nicht nur gewichtig sein, sondern er sollte es auch sein.
[1]i Zitiert nach http://www.leuenberg.net/9805-0-5. (Anm.d.Ü)
[2] Der englische Text wurde veröffentlicht auf http://www.leuenberg.eu/: Human Rights and Morality: A Response of the Community of Protestant Churches in Europe (CPCE) - Leuenberg Church Fellowship - to the Principles of the Russian Orthodox Church on "Human Dignity, Freedom and Rghts".
[3] Zitiert nach der deutschen Fassung der Antwort auf http://www.leuenberg.net/daten/File/Upload/doc-9805-2.pdf. http://www.leuenberg.net/daten/File/Upload/doc-9805-2.pdf
[4] S. http://orthpedia.de/index.php/Grundlagen_der_Sozialdoktrin_der_ROK?db1120085-orthodoxleben_op__session=n6qahl64krakuoqiccrdfm5672 (Anm.d.Ü)
[5] Die „Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über Würde, Freiheit und Rechte des Menschen" sind nach http://www.bogoslov.ru/text/410686.html zitiert. (Anm.d.Ü.)
[6] Wir weisen beiläufig darauf hin, dass in diesem Falle ein einfacher Verweis auf die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" bei einer Diskussion über „Brutalität und Gewalt" kaum etwas hergibt. Dieses vor über einem halben Jahrhundert verabschiedete Dokument berücksichtigt nicht die Probleme, die im Bereich der Menschenrechte erst kürzlich entstanden sind, zum Beispiel das Problem der Abgrenzung zwischen freier Meinungsäußerung und Beleidigung der Gefühle von Gläubigen. Viele von denen, die beispielsweise die Befürworter der säkularistischen Weltanschauung zur Kritik der Religion verteidigen, fördern dadurch im Grunde genommen unverhohlen „Brutalität" in Bezug auf religiöse Menschen und ihre Ideale.
[7] Im GEKE-Text Joh 15,14, was evtl. ein Tippfehler ist. (Anm.d.Ü.)
[8] Zitiert nach der unrevidierten Elberfelder-Bibelübersetzung. (Anm.d.Ü.)
[9] In der Russischen Übersetzung: „Это широкая сфера защиты человеческого достоинства, которая принимается как сама собой разумеющаяся во всех Церквах". (s. http://www.bogoslov.ru/text/476497.html, Anm.d.Ü)
[10] Als Seine Heiligkeit Alexij der Zweite von Moskau und ganz Russland, Vorsteher der Russischen Orthodoxen Kirche (1929 - 2008), die Fragen der Abgeordneten der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (Strasbourg, 2. Oktober 2007) beantwortete, formulierte er seine Stellungnahme wie folgt: „Unsere Kirche ist immer für die Erhaltung des Lebens in allen ihrer Formen eingetreten, sei es das Leben eines Kindes im Leibe seiner Mutter oder das Leben eines zum Tode verurteilten Verbrechers".
[11] Im russischen Originaltext: „wacht die menschliche Freiheit" („стоит на страже человеческой свободы") (Anm.d.Ü.)