In einer seiner Predigten sagte Patriarch Kyrill unter anderem: „In letzter Zeit stoßen wir auf riesige Versuchungen – in mehreren Ländern wird die Wahl zugunsten der Sünde getroffen und vom Gesetz gerechtfertigt“. Diejenigen aber, die der Stimme ihres Gewissens folgend, „gegen solche von einer Minderheit aufgezwungenen Gesetze kämpfen, werden Repressionen unterzogen“.
„Dort, wo durch die Freiheit die Sünde gewählt wird, gibt es Tod, Terror, Diktatur“,- sagte der Kirchenvorsteher.
Dieser Gedanke des Patriarchen kam einigen vor wie an den Haaren herbeigezogen; denn inwiefern wäre eine verstärkte Propagierung von homosexuellen „Ehen“ der Weg zur Gewaltherrschaft? Inzwischen ist aber Ersteres mit Letzterem eng verbunden. Wie definiert sich ein Staat ohne Gewaltherrschaft? Dadurch, dass er seine Grenzen kennt; er betrachtet sich nicht als absolut, er kennt eine höhere Instanz. In manchen Fällen wird dies in der Verfassung klar verkündet. Zum Beispiel beginnt das Grundgesetz Irlands mit den erhebenden Worten:
„Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, von der alle Autorität kommt und auf die, als unserem letzten Ziel, alle Handlungen sowohl der Menschen wie der Staaten ausgerichtet sein müssen, anerkennen
Wir, das Volk von Irland,
in Demut alle unsere Verpflichtungen gegenüber unserem göttlichen Herrn, Jesus Christus, der unseren Vätern durch Jahrhunderte der Heimsuchung hindurch beigestanden hat,
in dankbarer Erinnerung an ihren heldenhaften und unermüdlichen Kampf um die Wiedererlangung der rechtmäßigen Unabhängigkeit unserer Nation,
und in dem Bestreben, unter gebührender Beachtung von Klugheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit das allgemeine Wohl zu fördern, auf dass die Würde und Freiheit des Individuums gewährleistet, eine gerechte soziale Ordnung erreicht, die Einheit unseres Landes wiederhergestellt und Eintracht mit anderen Nationen begründet werde,
nehmen wir diese Verfassung an, setzen sie in Kraft und geben sie uns.“
Die Verfassung Griechenlands beginnt ebenfalls mit der Berufung auf die Dreifaltigkeit. Und auch die „ Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika“ wendet sich an den Schöpfer, welcher den Menschen ihre unentziehbaren Rechte verleiht.
Manchmal wird in den grundlegenden Dokumenten eines Staates der Name Gottes nicht direkt angerufen, doch wird in ihnen die Präsenz der höheren Instanz und des moralischen Gesetzes vorausgesetzt. Dieses Gesetz wird nicht vom Staat festgelegt, er muss sich diesem aber unterordnen. Diese Vorstellung von einem „Natürlichen Gesetz“, das in die Natur der Weltordnung eingeschrieben ist, geht auf die vorchristliche Antike zurück. Der hervorragende römische Redner Cicero sprach die Worte:
„Das wahre Gesetz ist in Übereinstimmung mit der Natur, verteilt auf alle, beständig, ewig, es ruft zur Pflicht auf, indem es befiehlt, es schreckt ab, indem es Betrug verbietet; das Gesetz, welches dabei nicht den Rechtschaffenen vergeblich befiehlt und verbietet, Ruchlose aber nicht durch Befehle oder Verbote bewegt. Es ist nicht erlaubt, dieses Gesetz zu ändern, man darf es nicht teilweise abschaffen, noch kann man es ganz abschaffen. Wir können es auch nicht durch Senat oder Volk von diesem Gesetz entbunden werden, es braucht nicht Sextus Aelius als Dolmetscher oder Interpret gefragt werden, noch wird ein anderes Gesetz in Rom sein, ein anderes in Athen, ein anderes jetzt, ein anderes später, sondern ein sowohl ewiges als auch unumstößliches Gesetz wird alle Völker zu allen Zeiten binden, einer wird zugleich Meister und Herrscher aller sein: Gott: Jener ist der Erfinder, Schiedsrichter und Antragsteller dieses Gesetzes; wer ihm nicht gehorcht, wird vor sich selbst fliehen und indem er das Wesen des Menschen verleugnet gerade dadurch die größten Strafen abbüßen, auch wenn er den übrigen schweren Strafen, für die man sie hält, entgehen wird.“
Ein Gespräch über die unentziehbaren Rechte des Menschen ist nur möglich, wenn das über dem Staat stehende Gesetz anerkannt wird. Anderenfalls, wenn Staaten (oder Menschen generell) als Gesetzgeber fungieren, können sie diese unentziehbaren Rechte auch beschneiden; sie sind dann eben nicht unentziehbar.
Erinnernт wir uns nun daran, worüber in Bezug auf „homosexuelle Ehen“ tatsächlich diskutiert wird. Es geht nicht nur darum, was „Ehe“ zu heißen vermag und was nicht, sondern auch darum, zu was der Staat berechtigt ist oder nicht - etwa, die Definition der Institution Ehe zu revidieren. Vom Standpunkt der Verfechter der traditionellen Ehe ist diese etwas, was dem natürlichen Gesetz zugehört, und der Staat vermag sie anzuerkennen und zu registrieren, doch ihre Definition nicht zu ändern. Etwa so, wie der Staat Begünstigungen für Schwangere festzulegen vermag, doch nicht zu bestimmen, was eine Schwangerschaft ist, nämlich eine naturgegebene Realität und vom Staat keineswegs abhängig. In allen menschlichen Kulturen leben Mann und Frau zusammen und bewahren Treue zueinander, bringen Kinder auf die Welt und erziehen sie – eben das nennt sich Ehe und hängt weder vom Staat noch von der Kirche ab. Der Staat vermag diese Realität anzuerkennen – und sollte es auch tun, da sie für die Gesellschaft von elementarer Bedeutung ist – doch kann er sie nicht ändern.
Die Idee, dass der Staat irgend etwas, das ihm angemessen erscheint, als Ehe erklären könne, hat sehr weitgehende Folgen. Die Verwerfung des Natürlichen Gesetzes würde bedeuten, dass der Staat oberster Schiedsrichter nicht nur auf legislativem, sondern auch auf sittlichem Gebiet wäre und keine Instanz über ihm existierte . Er, der Staat, stünde über allem in der Welt, im buchstäblichsten und absoluten Sinne. Alles, was der Staat festlegte und befähle, würde zur gesetzlichen und sittlichen Wahrheit.
Man könnte einwenden, ein demokratischer, säkularer Staat könne und müsse Gesetze festlegen, ohne auf einen Obersten Gesetzgeber Rücksicht zu nehmen, an den seine Vertreter vielleicht ohnehin nicht glauben – denn zum Glauben sind sie ja nicht verpflichtet.
Doch wissen diejenigen, die so sprechen, nicht ganz, was dies bedeutet. Unter anderem bedeutet es, falls der säkulare Staat morgen entschiede, aus tiefgründigen säkularen Motiven, dass beispielsweise alle, die sich als homosexuell erwiesen haben (hier sei an das Schicksal von Ernst Röhm erinnert), ihr Leben verwirkt hätten, würden Sie nichts dagegen sagen können. Sie würden nicht einmal behaupten können, dass dies Unrecht wäre, denn der säkulare Staat als oberstes Maß der Gerechtigkeit könnte den Standpunkt vertreten, es sei sehr gerecht, und über ihm gebe es keinen obersten Richter.
Noch drastischer zeigt sich die Verwerfung des Natürlichen Gesetzes in den (aus weltanschaulich gleicher Richtung stammenden) Bestrebungen, Abtreibungen weitgehend zuzulassen, welche die bereits offene Propaganda der Infantizide (d.h. Tötung von bereits geborenen Babies) einschließt. Denn das Gesetz, das im Herzen jedes Menschen eingeschrieben ist, besagt, dass es falsch ist, einem unschuldigen Menschenwesen, das offenkundig weder Verbrecher noch Angreifer ist, das Leben zu nehmen. Für moderne Liberale wird die Frage, ob ungeborenen (für einige auch bereits geborene) Kindern das Leben genommen werden darf, durch ihre Prinzipien entschieden.
Wenn aber es bei ihnen möglich ist, warum denn nicht bei Ihnen? In einem Staat, welcher über absolute Macht verfügt, auch, das Natürliche Gesetz abzuschaffen, wenn diese oder jene einflussreiche Lobby es unbequem findet, werden nicht einfach in eine Welt geraten, in der gegen Sie ein Verbrechen begangen werden, sondern in eine Welt, in der sogar alles Mögliche mit Ihnen gemacht werden dürfte – ohne dass dies ein Verbrechen wäre, da der Staat so entscheiden hätte. Wie jemand zuspitzend anmerkte, wurden alle, die für die Unterstützung von Abtreibungen auftreten, selbst erfolgreich geboren. Auch sind die Verfechter der Infantizide dem Babyalter erfolgreich entwachsen. Doch steht uns allen das Altern bevor, und hier lohnt es sich, ein weiteres Motto auf der Fahne des Liberalismus zu berücksichtigen, nämlich das sogenannte „Recht auf Euthanasie“. „Das Recht auf den würdigen Tod“ könnte sehr schnell in eine „Sterbepflicht“ übergehen, wobei womöglich nicht nur in Andeutungen, sondern im Klartext gesprochen würde. In der schönen neuen Welt der homosexuellen Ehen und postnatalen Abtreibungen könnten Sie gebeten werden, Ihr Recht auf einen würdigen Tod wahrzunehmen und dadurch Ihre Wohnung freizumachen.
Unseren Opponenten kommt es so vor, dass wir irgendwelche spezifisch religiösen Dinge auskämpfen, die sich auf nichts gründen als die Göttliche Offenbarung, die sie nicht akzeptieren. Wir stehen unter dem Verdacht, dass wir der säkularen Gesellschaft irgendwelche konfessionellen Doktrinen aufzwingen möchten. So ist es aber nicht. Wir kämpfen für das natürliche sittliche Gesetz und die Vernunft gegen eine ideologische Richtung, die beides ablehnt. In der Bibel wird beispielsweise gesagt „du sollst nicht stehlen“; doch bedeutet dies nicht, dass es eine rein religiöse Maxime wäre, von der sich die moderne Gesellschaft schmerzlos freimachen könnte. Eben so steht in der Bibel „ Mann und Weib schuf er sie“, und dies ist eine Wahrheit nicht nur des Glaubens, sondern der menschlichen Natur selbst, und damit Schluss zu machen bedeutet nicht, mit einer Religion Schluss zu machen, sondern auf die Vernunft zu verzichten.
Menschen haben das natürliche Gesetz schon immer gebrochen. Auch in der Geschichte der europäischen Zivilisation können wir viel Sünde und viel Falsches finden. Doch ermöglichte die Besinnung auf das Natürliche Gesetz, das durch die Biblische Offenbarung bestätigt wurde, die Sünde als Sünde zu erkennen und sich ihr entgegenzustellen. Heute beobachten wir eine tektonische Verschiebung, die Ablösung der Europäer und Amerikaner von den eigentlichen Wurzeln ihrer Zivilisation – nämlich die Verwerfung des Natürlichen Gesetzes als solchem. Denn es ist eine Sache, wenn in einer Gesellschaft Verbrechen begangen werden (leider werden überall Verbrechen begangen), und eine andere Sache, wenn diese nicht mehr als Verbrechen gelten und die Tötung von Kindern als „Recht auf persönliche Wahl“, Erzwingung von Senioren zum Selbstmord als „Recht auf den würdigen Tod“ und homosexuelles Zusammenwohnen als „Ehe“ bezeichnet wird.
Dieser Schluss führt unvermeidlich zu einer Einschränkung der Freiheiten, die die westliche Gesellschaft lange Zeit als grundlegend verkündete – nämlich die Freiheit des Rechts, des Glaubens und der unternehmerischen Aktivität. Der Unwille, an Taten teilzunehmen, die sowohl dem christlichen Glauben als auch der natürlichen Sittlichkeit entgegenstehen (zum Beispiel, Abtreibungen durchzuführen, Adoptionen von homosexuellen Paaren zu arrangieren oder Blumen für homosexuelle „Hochzeiten“ zu liefern) wird zu einem Akt verbrecherischer Diskriminierung erklärt und zieht die Verfolgung nach staatlichen Gesetzen nach sich.
Seien wir dessen gewärtig – die Verwerfung des Natürlichen Gesetzes wird sehr schnell nicht nur zulässig, sondern verpflichtend. Menschen geraten in Situationen, von denen der Patriarch spricht – Situationen erzwungener Sünde.
Deshalb ist es für uns wichtig, uns erstens darüber im Klaren zu sein, was geschieht, und uns zweitens weder zu fürchten noch zu genieren, zum Schutz des Natürlichen Gesetzes und der Vernunft gegen die nächstfällige ideologische Seuche, die unseren Kontinent befallen hat, einzutreten. In Russland ist diese Seuche noch nicht sehr stark, und die Regierung verabschiedet Gesetze, die die in dieser Hinsicht die völlig gesunde Einstellung der Bürgermehrheit widerspiegeln. Doch klopft sie auch schon an unsere Türen. Und es lohnt sich für uns, „Nein“ zu sagen – solange wir diese Möglichkeit noch haben.
Quelle:http://radonezh.ru/67256