30. Oktober 1977
Ich möchte eure Aufmerksamkeit auf zwei Dinge aus der heutigen Evangeliumslesung lenken. Zum einen auf die Worte, mit denen der Herr dieses Gleichnis beendet: Wenn wir es nicht geschafft haben auf Moses und die Propheten zu hören, d.h. auf all die Zeugen, die uns von Anbeginn der Zeit von Gott und Seiner Wahrheit erzählt haben, dann kann uns auch der Auferstandene von nichts überzeugen. Für die, die diese Worte damals hörten, schienen sie sehr unklar gewesen zu sein. Doch sind sie nicht für uns heute ebenso unverständlich? Christus ist auferstanden. Er ist in der Herrlichkeit Seiner Gottheit und in all der Schönheit und Größe Seiner Menschheit erschienen. Doch obwohl wir Christen Seine Worte hören, über Seine Lehre staunen und Ihn verehren, bleiben wir doch sehr weit hinter dem zurück, was Er uns gelehrt hat. Kann man uns etwa ebenso als Nachfolger Christi erkennen, wie man dies in den Gesichtern der frühen Christen oder der Apostel sehen konnte? Damals war das Kennzeichen der Apostelschaft, ja des Christentums überhaupt, eine für die Erde völlig neuartige Liebe der Christen untereinander, eine Liebe, die bereit war, für die gesamte Welt Opfer zu bringen. Die frühen Christen gaben bereitwillig ihr Leben hin, um einen anderen Menschen, der ihnen fremd sein konnte oder sie sogar manchmal hasste, von der Wahrhaftigkeit des Christentums zu überzeugen, damit dieser von neuem Leben erweckt würde. Wie weit ist das, was die Leute in uns sehen können, davon entfernt!
Dies bringt mich zu dem zweiten Aspekt, über den ich sprechen wollte: Einer von den frühen Kirchenvätern hat einmal gesagt: Es gibt keinen furchtbareren Ort des Ausgestossenseins, als den, wo falsche Christen sind, d.h. Christen nur dem Anschein nach ... Wenn wir das heutige Gleichnis lesen, denken wir immer an nur Lazarus und und an den Reichen, d.h. an andere. Doch was ist, wenn dieses Gleichnis auch an uns gerichtet ist? Gleichen wir nicht etwa sehr dem Reichen? Wie unendlich reich sind wir, wenn man unsere geistigen Güter betrachtet! Wir wissen, dass es Gott gibt, wir haben Christus angenommen, Seine Lehre wurde vor uns aufgetan, wir dürfen an Seinen Sakramenten teilhaben, in uns wirkt Seine Gnade und in der Kirche der Heilige Geist. Wir jedoch leben frei und sorgenfrei mit diesem Reichtum, den der Herr uns schenkt, und bleiben selbstgenügsam auf uns bezogen. Um uns herum jedoch leben zig-tausende Menschen, die hungrig sind und einverstanden wären, wenigstens von den Krumen, die ständig von unserem Tisch fallen, etwas abzubekommen. Doch wir geben ihnen nichts. Die Orthodoxie gehört uns, ebenso der Glaube, alles gehört uns! Andere Leute hungern an unserer Schwelle, unter der Treppe, an unserer Tür. Ja, sie sterben an Hunger und erhalten oft nicht ein einziges lebensspendendes Worte, welches sie neu beleben könnte. ...
Wir wissen sehr sehr viel, wir sind viel zu reich. Die Heiligen der Alten Kirche, die oft nicht lesen und schreiben konnten und keinen Zugang zu so einer Unmenge von Büchern hatten, die wir heute lesen können, hörten manchmal ein einziges Wort aus dem Evangelium und richteten nach diesem ihr gesamtes Leben aus. Und so sind sie zu Heiligen geworden. Wir lesen und lesen, hören und beten, doch keinerlei Frömmigkeit, wie man sie bei einem Heiligen findet, erwächst in unseren Reihen. Denn wir sind ebenso geizig wie jener Reiche, der alles für sich wollte und keinerlei Mitleid übrig hatte für einen anderen Menschen.
Das Evangelium berichtet uns, dass der Arme gestorben ist - vielleicht einfach nur wegen Hungers vor den Türen des Reichen – und dass die Engel ihn in Abrahams Schoß, d.h. in Gottes Paradies, getragen haben. Auch der Reiche ist gestorben, doch kein einziger Engel näherte sich ihm. Ebenso gierige und reiche Leute beerdigten ihn in der Erde. Er war gestorben und stand nun vor Gericht. Nicht weil er reich war und Lazarus arm und nicht nur einfach deshalb, weil ihm bereits auf Erden ein schönes Leben gegönnt war und dem anderen nur Bitternis, sondern weil er all das Schöne, was er hatte, geizig festgehalten, ohne etwas davon zu teilen. Genauso kann nun auch der Arme, der jetzt in der Ewigkeit so reich ist, nichts mit ihm teilen. ...
Lasst uns über unsere Orthodoxie nachdenken und über unseren Reichtum. Lasst uns Gedanken machen über den Hunger, der uns bei den Christen anderer Konfessionen umgibt, unter den Nichtgläubigen, bei den Atheisten und unter denen, die auf der Suche sind oder auch nicht. Lasst uns nicht diesem Reichen gleichen, sodass auch uns der Herr vor Sein Gericht rufen wird: Ich bin auferstanden, doch ihr habt Mir nicht geglaubt. Was für eine Freude wird vielmehr beim Heiland und bei den Engeln, bei unserem Vater im Himmel und unserer Mutter, der Gottesgebärerin, bei den Heiligen und bei den Sündern herrschen, wenn wir mit einem großzügigen Herzen und voller Freigebigkeit all unseren Reichtum mit anderen teilen: ihn abgeben, ohne ihn irgendwie für uns behalten zu wollen. Denn ein Mensch ist in Wirklichkeit nur an dem reich, was er aus Liebe verschenkt. Dann wird sich auch zwischen uns und in unseren Seelen das Gottesreich auftun, das Reich der triumpfierenden, freudigen und alles besiegenden Liebe.
Amen